Das zweite Gesicht
ehr sie selbs t . Tote erwachten zum Leben.
Nette war ni cht t o t.
»Hinter … dir.« Noch immer rührte das Mädchen sich nicht.
Da waren leise Schritte in Chiaras Rücken. Je m and schlich sich von hinten heran. Ein eiskalter Schauder überkam sie. Sie zitterte. Trotzdem behielt s i e s i ch unter Kontrolle. Vorsichtig schob sie die Hand in den Mantel, verdeckte die Bewegung m it ihrem Körper.
Der Revolver kroch wie von s e lbst in ihre Finger. Nettes Augen weiteten sich. »Jetzt!«
Chiara fuhr herum – und ließ s i ch g l eic h zeitig zur Seite fallen. Die Kanten der Mar m o r stufen, die zu dem Wannenpodest hinaufführten, s c hnitten wie S t ockschläge in i h ren L e ib. Alles t a t gleic h zeitig weh. Trotz d em sah sie den Mann, dessen ausgestreckte A r m e zusam m ens c hnappten wie eine Schere, genau dort, wo sie gerade noch gekniet hatte. S eine Reaktion war schwerfällig, seine Ver w underung beinahe ko m isch.
Nette s tieß einen s p itzen Schrei aus, als Iwan das Gleichgewicht zu verlieren und in die W anne z u stürzen drohte. Da n n aber fing er sich, s t arrte s i e ei n en Mo m ent lang fast verstört an und drehte sich zu Chiara um, die a m Fuß der Stufen angekom m en w a r, halb fallend, halb stolpernd. Die W affe u m kl a mmerte sie im m er noch m it beiden Händen.
Wahrscheinlich war er bereits so gut wie tot gewesen, bevor sie abdrückte. Sein dunkler Anzug, vor allem aber das weiße He m d, waren blutüberströ m t. Etwas, das aussah wie ein Flaschenhals, ragte a u s seiner Brust. Viell e icht hatte der Scherbenring nur seine Brustmuskulatur durchdrungen, vielleicht stach er auch tiefer. Chiaras Schuss erledigte den Rest.
Der Mündungsblitz fraß sich wie eine glühende Nadel in ihre Netzhäute und ließ sie die Augen schließen. Der Rückstoß schlug ihr fast die W a ffe a us den halb betäubten Händen.
Es war ein Bauchschuss. Iwan schrie gellend auf, ehe der Ton in einem nassen Gurgeln endete, Blut über seine Lippen schoss und sich zu dem übrigen in der W anne ergoss. Das Scharlachrot im W asser war nic h t Nett e s Bl u t
– es war seines. Das Mädchen m usste ihm die zerbroche n e Flasche in den Leib ge ram m t haben. Die anderen waren fort, wohin auch im m er; wo m öglich hatte Masken ihm den Auftrag gegeben, die geschundene, m i ssbrauchte, benutzte Nette zu e n tsorgen. Vi e ll e icht h atte sie d i e ga n ze Nacht auf genau diese Gelegenheit gewartet.
Nette ist ni c ht tot. Der Gedanke tanzte funkelnd durch Chiaras B e wusstsein. Sie war v i elleic h t o h n m ächtig geworden oder in dem war m en W a sser eingeschlafen, als sie versucht hatte, Iwans Blut von ihrem Körper zu waschen.
Der m assige Leib des Mannes drehte sich in ei ne r langsa m en, beinahe m ajestätischen Bewegung ein m al um sich selbst, als befände er sich im Inneren eines Aquariu m s. Dann zuckte er und stürzte genau auf Chiara zu. Es war kein gezieltes Näherkom m e n, keine kontrollierte Attacke. Dennoch drückte sie ein zweites M a l ab. Die Haut an der Seite seines Halses e x plodierte, gefolgt von einer Blutfontäne, a l s seine Schlagader platzte. Die W ucht des Geschosses li e ß ihn herumwirbeln, dann schlug er zwei Meter neben Chiara auf den Boden, in m itten ei n es roten St e rns, der auf dem Marmor in alle Richtungen wies wie ein exotisches Staatssy m bol.
Nette fuhr hoch, sch w ang s i ch über den W annenrand und tau m e l te die Stufen zu Chiara herab. Tropfen funkelten wie S m aragde auf dem nackten K örper des Mädchens. Sie hatte dunkel angelaufene Prellungen am Oberkörper und den Obersche n keln. Dann füllte ihr Gesicht Chiaras ganzes Blickfeld aus, Nette nahm ihr m i t
nassen Händen den Revolver ab u nd zog s i e an s i ch, schluchzend wie ein Kind.
Hinter Nette zeich n ete sich pastellfarben die Morgendäm m erung ab, jenseits der Glasfront zum Garten war der Hi mm el rosa und türkis. Bald würde über dem See die Sonne aufgehen.
» W ir m üssen weg von hier«, flüsterte Nette und betonte es, als wollte sie Chiara da m it trösten.
Ich bin diejenige, die sie trösten sollte, durchfuhr es Chiara, aber sie brachte kein W ort heraus.
» W enn die anderen wieder klar sind, werden sie hi e r auftauchen « , sagte d as Mädchen. »Masken wird sich wundern, wo dieses Arschloch bleibt.«
Chiara nickte, aber ihre Gedanken kreisten schon wieder auf irritierende W eise um sich selbst. Sie sollte an Nette denken, an Iwan, vielleicht an Mas k en, aber im m er
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