Das zweite Gesicht
hin und wieder m al hierher. Aber der harte Kern … ja, wir leben hier. Ich weiß nicht, ob Sie wissen, dass die Fil m leute sich ihre Ko m parsen m eist von der Str a ße holen. Die m eisten sind Arbeitslose. Für einen T a g Dreharbeiten gab’s ein bisschen Geld und eine heiße Suppe. Besser als nichts. Aber nach de m , was passiert war … nun, es gibt genug Gesunde, die sich die Finger danach lecken, in den Ateliers zu arbeiten. W er will schon für sei n e Hare m sszene eine Frau m it verbranntem Gesicht? Oder für sein rö m i sches Heer Soldaten m it verkrüppelten A r m en und Beinen? W i r halten uns m i t Gelegenheitsarbeiten über W asser, einige leben von de m , was sie im Müll finden. Ber l in i s t voll von Orten wie diesem hier … Obdachlose finden Sie in der Kanalisation, auf brachliegenden Baustellen, überall, wo man sie in Ruhe lässt. W i r hatten Glück, bisher hat keiner versucht, uns hier fortzujagen. Und w i r können Masken von hier aus im Augen behalten.«
»Sie klingen nicht wie je m and, der auf der Straße lebt.«
»Sie hatten vorhin Recht – ich war m al Polizist. Dann kam der K r ieg, die Schützengräben … Das ist jetzt wie lange her? E rst drei, vier Jahre? Kaum zu glauben. Danach hatte ich keine Arbeit m ehr. Komparse zu s e in ist keine Schande, und so landete ich«, er grinste schief, » beim Film. Im m e rhin wurden wir satt davon. Die Regisseure scheuchten uns m anch m al fünfz e hn, sechzehn Stunden lang durch die Kulissen, im S o m m er in viel zu war m en Kostü m en, im W i nter m anch m al halbnac k t. S päter kann m an sagen, ich war bei dem und d e m Film dabei, und es gibt Menschen, die das b e neidenswert finden … Ich kannte m eistens nicht m al die Titel.« Er winkte ab. »Aber es geht hier nicht um m i ch, nicht wahr ? «
Wasser lief Chiara übers Kinn. Es sch m eckte schal, ab e r sie konnte nicht aufhören zu trinken.
»Masken war Theosoph«, sagte er, »das wissen Sie schon, oder? Er kannte Steiner, bevor der sich von seinen früheren Thesen losgesagt hat. Masken hat ihm das ver m utlich bis heute ni cht ver z ieh e n. Er las Niet z sches Abhandlungen über die Vergottung des Individuu m s. Man sollte m einen, dass Fil m leute sich n i cht er s t m i t Philosophie beschäftigen m üssen, um sich selbst zum Halbgott zu stilisieren – die m eisten schaffen das auch ohne Nietzsche und Steiner. Aber Masken ist intelligenter als viele andere, und er hat irgendwann angefangen, die Dinge zu hinterfra g en, über den Tellerrand hinauszublicken … Er fand G l eich g esinnte, die sich ihm anschlossen und seine Anwand l ungen für die Ideen eines Genies hielten – zu m i ndest e i ne Z eit lang. Ihre S chwester Jula war eine seiner Anhäng e rin n e n , aber d as wissen Sie sicher. Tat s ächlich erwuchs ihm in ihr sehr bald eine Konkurrentin, was die Gunst der anderen betraf.
Vergessen Sie nicht, s i e war einer der größten Stars in Berlin, sie war unzweifelhaft sehr schön und wusste, wie m an Menschen um den kleinen Fi n ger wickelt. Aber sie war auch klug, ihre Schwester, und sie setzte sich auf ihre eigene W eise m it Steiner und K onsorten auseinander. D a m als hat sie sich v o n Maskens Einfluss gelöst. Beim Film hatte sie alles erreich t , und das war ihr nicht m ehr genug. Ich denke, sie hat beg r iffen, dass Berüh m theit einen Menschen nicht göttlich m acht, nicht wirklich besser als andere – nic h t, um m it Nietz s che zu spr e chen, zum Übermenschen. Aber genau das war ihr Ziel, und sie ging dabei längst nicht so plump vor wie Masken. Sie studierte asiatische Philosophien, setzte sich m it Aspekten verschiedener Kulte auseinander … weiß der Teufel, die Details kenne ich auch nicht.«
»Jula und Philosophie ? « Chiara lachte ungläubig.
»Glauben Sie m i r, ich kenne ihre Bibliothek – die Regale sind leer.«
»Jetzt, vielleicht. Aber warum hat sie w ohl eine Bibliothek einbauen lassen? Es gab dort Bücher, aber irgendwann waren die nicht m ehr i n tere s sant f ür sie. Sie beschloss, f ür eine W eile nach Indien zu gehen – und da m it hat es eigentlich erst begonnen.«
»Ich habe gehört, dass sie m it einem kleinen Jungen von dort zurückgekommen ist.«
»So ist es.«
» W as war das für ein Kind ? «
»Ihre Sch w ester stand eine W eile in engem Kontakt zu einer Engländerin na m ens Annie Besant, einer der führenden Theosophinnen. Die gute Mrs. Besant war der Ansicht, dass in In d i en ein Avatar geboren worden
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