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Das zweite Gesicht

Titel: Das zweite Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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die Augen und ließ den Hinterkopf gegen die Rückenlehne sinken. Die Farben der L andschaft ver m ischten sich zu ei n em wahnwitzigen W i rbel, den sie irgendwie aus ihrem Kopf aussperren m usste.
    Nette f uhr f ort: »Die bei d en Fra u en sahen aus wie Zwillinge … aber daran hab ich nicht ei n e Sekunde geglaubt, weißt du? Ich m eine, die eine war gerade aus dem W asser geklettert … Und ich war lange genug in dem Schuppen, um ganz genau zu wissen, dass sie vorher nicht reingestiegen war. Sie kam aus dem W asser, wie eine Meerjungfrau oder … oder ein Gespenst.«
    »Als hätte das W asser sie geboren«, flüsterte Chiara, ohne die Li der zu heben. Sie e r innerte sich daran, wie sie in dem ver m eintlichen T raum sich selb s t gegenübergetreten war. Alles war genauso gewesen, wie Nette es beschrieb – nur d a s s dies m al sie diejenige gewesen war, deren Doppelgängerin aus dem Brunnen gestiegen war.
    » W ie neugeboren«, sagte Nette nickend. »Daran m usste ich auch denken. Und eines wusste ich: Das ging nicht m it rechten Dingen zu. Der kleine Junge hat die ganze Zeit kein W ort gesagt, hat nur dagestanden und gelächelt, so als wusste er ganz genau, was vorging.« Ihre Fingerspitzen zeichneten ein unsichtbares Muster auf die Holzbank, Zeichen, die nur sie selbst zu deuten wusste. »Sie hatten Kleidung m itgebracht, die die n ackte Frau angezogen hat. Und dann sind sie gegangen, und ich hinterher … Sie haben m i ch nicht be m erkt, die waren viel zu sehr m it sich  selbst beschäftigt. Sie haben ein Taxi genom m e n, und ich hab m ein ganzes Geld zusam m engekratzt und bin m i t einem anderen W agen hinterh e r. Bis zur Krum m e n Lanke. Dort sind s i e dann in der Villa versc h wunden.«
    Chiara öffnete die Augen – und dachte im ersten Mo m ent, sie wäre blind. Der Zug fuhr durch einen kurzen Tunnel. »Daher kanntest du also das Haus.«
    Das Tageslicht kehrte zurü c k. »Ja. Und ich hatte Jula erkannt. Nicht sofort, nicht in dem Schuppen. Aber draußen wusste ich sofort, wer sie war. Sie h atte e i nfache Kleider an, nichts Edles, und sie hatte«, Nette grinste, »sie hatte ein Kopftuch um. Aber ihr Gesicht war da m als überall, auf Litfasssäulen und an Mauern, u n d ich hatte sogar einen oder zwei ihrer Fil m e gesehen.«
    »Du hast doch gesagt, dass du nicht ins Kino gehst.«
    »Das war geschwindelt. Manch m al gehe ich, auch wenn’s teuer ist. Aber ich hab’s nicht gesa g t – weil ich Angst hatte, du würdest m i r dann nicht m ehr glauben, dass ich nicht wusste, wer du bist … Jetzt wusste ich jedenfalls, wo Jula wohnte, und ich wusste auch, dass irgendwas nicht stimmen konnte m it der Frau, die genauso aussah wie sie.«
    Chiara be g r i f f m it einem Mal. »Du hast versuchst, sie zu erpressen!«
    Langes Schweigen war die A ntwort, ehe Nette schließlich sagte: »Ich w ollte kein Geld von i h r. Ich wollte Arbeit. Ich wollte d i e s es wundersc h öne, riesen g roße Haus von innen sehen und wissen, wie es ist, an so einem Ort zu leben. Ist was anderes als ’ne Dachkammer i m Scheunenvi e rt e l. Ich wollte nur f ür sie arb e iten, auch f ür wenig Geld, das m usst du m i r glaub e n! Nichts s o nst wollte ich haben, w i rklich nicht.« Nette Tonfall war jetzt flehend, und Chiara spürte, dass sie die W ah r heit sagte. »Ich wollte  für sie putzen oder Einkäufe erledigen oder die Hecke schneiden … ganz egal. Nur raus aus dem Viertel und …« Sie schüttelte den Kopf. »Ich dachte, ich könnte wie sie in diesem Haus wohnen. Aber Jula hat m i ch au s gelacht. Sie hat gesagt, keiner würde m i r glauben, wenn ich was von Frauen erzähle, die aus Brunnenlöchern kriechen und aussehen wie Jula Mondschein. Und sie hatte Recht. Das Ganze war eine dum m e Idee. Ich hab m i ch in Grund und Boden geschä m t für meine Blödheit und bin zurück ins Viertel. Und das war’s dann erst m al.«
    »Bis du von Julas Tod gehört hast.«
    »Alle redeten darüber, und es stand ja auch groß in den Zeitungen. Ich dachte, dass da irgendwas nicht stim m en kann. Und ich dachte, wenn diese … diese Doppelgängerin wirklich so was wie ’n Geist ist, dann hat sie vielleicht die echte Jula ermordet, um ihre Stelle einzuneh m en. W i e in den Gespenstergeschichten. Und deshalb wollte ich dich warnen. Ich hab nix von Doppelgängern oder G eistern in den Brief geschrieben, weil ich dachte, dass du m i ch dann nicht ernst nimmst … deshalb hab ich geschrieben, du sollst vor ihrem Erbe

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