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Das zweite Gesicht

Titel: Das zweite Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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wieder schob sich ihr eigenes Schicksal vor die Gesichter der anderen.
    Müssen weg von hier, drang es allmählich zu ihr durch, und dann sagte sie endlich: »Ja.«
    Nette h alf ihr auf u n d sprach v on U m ziehen und  Anziehen; o der war das sie selbst, di e redete?
    »Schnell«, sagte Nette.
    Die Sonne ging auf, und all e s, w as eben noch weiß gewesen war, färbte sich auf einen Schlag tiefrot.
     
     
    *
     
     
    Sie verließen Berlin m it dem Zug.
    Chiara fühlte sich beobacht e t, und manch m al m o chte das die W ahrheit sein, nicht nur ein Zeichen wachsend e r
    Paranoia. Man kannte sie, ihr Gesicht war berüh m t. Sie trug den Mantel, m it dem sie nach Berlin gekommen war, und Nette hatte ihr geraten, erneut ein Kopftuch u m zubinden. Das m o c hte zu m i ndest den einen oder anderen täuschen.
    Chiara fand es auf bittere W eise ange m essen, dass sie die Sta d t im selben Ma n t el v e r ließ, in dem sie sie betreten hatte. Da m als war er ihr bestes Kleidungsstück gewesen. Heute versteckte sie sich hinter seiner Schäbigkeit, als hätte sie sich das Gesicht m it Ruß geschwärzt.
    Sie hatten ein Zugabteil für sich, und nachdem sie eine Weile geschlafen hatten und Chiara spürte, dass die W i rkung d e s Kokains all m ählich nachließ und an seine Stelle etwas trat, d as i h r beinahe n o ch m ehr Angst m achte
    – ein Gefühl, ausgebrannt zu sein, nichts wert, nur ein Schatten ihrer selbst –, weckte sie Nette und berichtete ihr alles. Das Mädchen hörte zu, und wirkte dabei keineswegs erstaunt. Nicht ein m al, als C h iara von den Doppelgängern sprach, zeigte sie eine Spur von Verwunderung.
    Dann erzählte Nette. Sie gestand Chiara, sie belogen zu haben. Die Bande der Kinder h ä n dlerin war tat s ächlich hinter i h r hergewesen, aber das war nicht der Grund gewesen, weshalb sie vor Chiaras Tür gesessen hatte. Und, so fügte sie hinzu, es war nicht das erste Mal gewesen, dass sie die Unwahrheit gesagt hatte.
    »Der Brief da m als in deiner Pension«, sagte sie, »der war von m i r .«
    Chiara sah sie an und sagte nichts.
    »Ich wollte dich warnen … ich war bei der Beerdigung, weißt du? Sie haben m ic h nicht auf den Friedhof gelassen, aber ich hab draußen gewar t et, m it all den anderen. Ich hab dich gesehen. Ich wusste sofort, dass du ihre Schwester bist.«

Sie m achte eine lan g e Pause, während vor dem Fenster die flache m ärkische Landsc h aft vorbeizog. »Ich wollte m i ch m it dir treffen, in dieser Kaschemme i m Scheunenviertel. Ich war neugierig, ob du kom m en würdest … ob du den Mut dazu hättest. Aber dann waren Car m elita u nd die and e ren da, und bevor ich versuchen konnte, m it dir zu reden, bist du schon weggerannt. Den Rest kennst du ja.«
    » W arum hast du nichts gesagt, als ich bei dir war ? «
    Nette hielt ihrem Blick st a nd, aber Chiara kam es vor, als verkröc h e sie sich ein wenig tiefer in sich selbst. A u s ihren Augen träufelte das Leben und ließ eine große Leere zurück. »Ich habe Jula gekannt.«
    Chiara spa n nte sich e i n wenig. Aber was sollte sie j e t z t noch überraschen? »Erzähl weiter.«
    »Diese Orte im Scheun e nviertel, von denen der Mann dir erzählt hat … Ich kenne einen davon. Den letzten. Es ist ein alter Pferdestall auf einem Hinterhof an der Steinstraße. Kein Mensch kom m t nor m alerweise dahin, das Ding i s t ei n e Rui n e, es regnet rein und stinkt nach Rattenpisse … Aber ich hab m i ch da m anch m al versteckt, wenn Ca r m elitas Leute oder sonstwer hinter m i r her waren. Und ein m al, vor etwas m ehr als drei Jahren, hab ich Jula dort gesehen. Ich saß oben zwischen den Dachbalken, ich hatte da ein paar Decken liegen, ein Kissen und was zu essen … Ich saß also da, als … Es gibt dort ein Loch im Boden, so’n alter Brunnenschacht. Und plötzlich … ich m eine, plötzlich ist da je m and drin. Mitten im W asser. Versteh s t du? Ich sitze da, ganz steif vor Angst, weil m i r die Kerle mal wieder den Hals durchschneiden wollten … und dann stei g t da plötzlich diese Frau aus dem Wasserloch.
    Sie ist nac k t, hat helle Haut und zittert ganz furchtbar,  und ich überlege schon, ob ich zu ihr runtergehen soll, aber dann tu ich’s doch nicht, weil auf einmal die Tür aufgeht und eine Frau reinko m m t . Eine Frau, die genauso aussieht wie die erste, aber sie ist angezogen und nicht nass … und sie wird von einem kleinen Jungen an der Hand geführt, als würde sie selbst den W eg nicht kennen.«
    Chiara schloss

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