Das zweite Gesicht
Manch m al betrachtete Chiara sich im Spiegel, und das Bild, das sie sah, war nur auf den ersten Blick dasselbe wie vor ein e m Jahr. Sie war sch m aler geworden, sah m ü der aus und auch ein wenig erwachsener. Sie vers u chte s i ch v orzustellen, was die Chiara aus Meißen über dieses Gesicht gedac h t hätte, h ä tte es ihr eines Morgens unverhofft aus dem Spiegel entgegenge b lic k t . Vermutlich hätte sie es für z ehn Jahre älter gehalten und sehr viel reifer, durch Erfahrungen, die sie kühler, abgeklärter und a u ch distanzierter gegenüber der W elt ge m acht hatten. Ein Gesicht, das nicht freundlich wirkte, sondern verletzt, und das seine verbissene Kraft aus seelischen Narben zog, nicht aus Freude, Hoffnung oder Glück.
Chiara betastete ihr Gesicht m it den Fingern und strich über ihren Körper. M e in Körper? Chiaras Körp er ?
Es erschreckte sie, wie schnell sie sich dazu hatte bringen lassen, an sich selbst zu zweifeln, an ihrer Existenz, ihrer Vergangenheit. W enn Doppelgänger bei ihrer Geburt auf den Spuren des Avatars die Erinnerungen ihrer Vorbilder erbten, nicht nur ihr Äußeres, sondern jeden bis dahin gefassten Gedanken, jedes Wort, jede
E m pfindung, hatten sie dann nicht dasselbe Recht auf Leben wie ihre Origi n ale?
Sie schloss die Augen, ihre Hände krallten sich um den kalten Rand des W aschbeckens.
Hatte s i e ein Recht zu leben? Auf Kosten einer anderen?
*
Nach einem Monat wurde Chiara k l ar, da s s ihre Zeit am Meer n i cht ewig währen würde. Die langen Strandspaziergänge m it Nette spendeten ihr keinen Trost m ehr. Das Wetter schlug u m , es begann zu regnen, und der W i nd peitschte kühl von der See gegen die W ände des kleinen Hauses. Mit den Stü r m en kam die Unsicherheit, als ritte sie auf den Wellen heran, die sich schäu m end weiß am Ufer brachen.
»Ich weiß nicht, wie lange das noch so gehen kann«, sagte sie zu Nette, aber das Mädchen lächelte traurig und bat sie, nicht davon zu sprechen.
Ein weiterer Monat verging. Dann noch einer.
Chiara h a tte bei i h rer üb e rstü r zten Fl u cht aus Berlin alles Bargeld aus der Villa m itgenommen und auf dem Weg zum Bahnhof eine beträ c htliche Sum m e von ihrem Bankkonto abgehoben. Sie benötigten nicht viel für ihr Leben hier oben, nur f ü r die Miete, für Leben s m ittel und für Bücher, die sie an die Adre s se des Lade n s im Do r f schicken ließen. Es begann m it Tit e ln, an die Chiara si c h vage aus Maskens Bibliothek erinnerte, und führte dann über deren Quellenangaben und Literaturverzeichnisse zu weiteren Bänden, neuen Autoren und The m en, die erst auf
den zweiten Blick m it den Er e ignissen zu tun hatten. Sie las Nietzsche und Steiner, Goethe und Oscar W ilde, Descartes und Jacob Böh m e, Leibniz und Schelling, Hegel und Feuerbach, die Schriften der Stoiker und Epikureer. Bei Max Stirner, in s ei n em Au f satz Der Einzige und sein Eigentum, fand sie schließlich den Kernsatz v o n Maskens und Julas Philosophie: Jeder G o tt, so Stirner, sei ein Ebenbild des m enschlichen Ichs. D a m it war in wenigen Worten alles gesagt. Die Quintessenz der Theosophie und des Fil m geschäfts.
Und sie spürte – spürte es gegen ihr besseres W i ssen, entgegen aller Vernun f t –, dass sie dem i m m er no c h beipflichtete. Es drängte sie, den Status Quo ihres Lebens in Berlin wiederh e rz u stel l en. Sie ver m isste nicht die Partys oder Pre m ieren, keinen ihrer angeblichen Freunde. Was ihr fehlte war das Gefühl des Erfolgs, die Gewissheit, nach m ehr zu streben, nic h t nach Höhere m , nur nach Bessere m . Und sie wusste plötzlich genau, was Jula gefühlt haben m usste, als sie für eine W eile alles hinter sich gelassen hatte und nach Asien gegangen war. Hunger nach W i ssen, nach Verstehen h a tte sie getrieben. Derselbe Hunger, der jetzt für die Büchertür m e in allen Winkeln des kleinen Hauses verantwortlich war. Masken und seine Anhänger mochten das Egois m us nennen. Für Chiara war es fast so etwas wie die Suche nach einer verlorenen Liebe.
Es war Nette, die es auf den Punkt brachte: dass es in der Tat um Liebe ging – um Chiaras Liebe zu sich selbst.
War das das W esen der Doppelgänger? Dass sie bereit waren, sich rücksic h tsl o s selbst zu lieben, bis in die letzte Konsequenz?
Chiara dachte einen Tag lang darüber nach. Dann trug sie alle Bücher hinaus an den Strand, zündete sie an und sah zu, wie die Fla mm en das Papier verzehrten und
zigta
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