Das zweite Gesicht
aufpassen.«
Chiara eri n nerte s i ch an die Zeilen in misera b l e r Rechtschreibung, und plötzlich musste sie lachen; sie konnte gar nicht mehr aufhören. Nette war erst verunsichert, aber dann lachte sie zögerlich mit, bis sie sich schließlich nur noch a n sehen mussten, um aber m als loszuprusten. Es war ein verzweifeltes Geläc h ter, kurz v o r der Hysterie, aber es machte ihnen beiden Mut und auch ein wenig Hoffnung.
Nette h ä tte Chiara in diesen Augenblicken alles Mögliche beichten können, jede Lüge, jeden Schwindel – Chiara hätte ihr nichts m ehr übel neh m en können.
Nette wurde als Erste wieder ernst. »Als ich dich dann getroffen habe …«
»… hast du beschlossen, erst m al abzuwarten. Du hast dich an die Villa erinnert und hast di r überlegt … «
»… dass ich’s noch mal versuche, ja. Aber nicht m it Erpressung oder so. Ich hab g e wartet, und dann ist alles so gekommen, wie ich’s gehofft oder befürchtet hab … Du bist in das Haus eingezogen, und ich hab m i r gedacht, das wäre die Chance, en dl ich doch n och aus de m Viertel rauszukom m en … Du bist nicht wie deine Schwester, egal, was Masken m it dir angestellt hat.«
Der egoistischste a l ler Egoisten, hatte der verbrannte Mann gesagt. Nietz s ches Übermensch. Fast wäre sie aber m als in Gelächter ausgebroche n . Über m enschlich w a r nichts an ihr. Sie war ein W rack, und wenn sie i m Augenblick überhaupt noch eine egoistische Regung aufbrachte, so war es ihr schierer Überlebenswille.
»Du hast gedacht, in der Villa ist all e s bes s e r «, sagte Chiara leise und fühlte sich entsetzlich schuldig, »aber stattdessen ist es noch viel schlim m e r geworden.«
Nette senkte den Blick, aber dann schüttelte sie den Kopf.
»Ich hab wirklich einen von Car m elitas Bande erschossen. Genauso wie ich’s erzählt hab. W ar nur schon über ein Ja h r her, aber d er Rest sti mm t . Dieser Kerl heute Morgen, der Tote … so was erschreckt m i ch nicht m ehr. W i rklich nicht. Und der Rest …« Sie brach ab, auch wenn Chiara sich wünschte, Nette würde etwas sagen, das ihr schlec h tes Gewissen m i nderte. Aber einen so leichten Ausweg lieferte das Mädchen ihr nicht.
Nachdem beide lange Zeit geschwiegen und aus dem Fenster gestarrt hatten, wandte Nette sich ihr wieder zu. Sie wirkte so ernsthaft wie ein kleines Kind, das eine
besonders gewichtige F rage über das Leben stellt. » W er sagt eigentlich«, flüsterte s i e, »dass diese Doppelgänger die schlechteren Menschen sind ? «
*
Chiara m i etete ein ab s eits s t ehen d es Haus hinter den Dünen, kaum mehr als eine Hütte, aber m it frischem Wasser aus einer Pu m pe und einer behaglichen Einrichtung.
Am zweiten oder d r itt e n Tag half Nette i h r d a bei, i h r dunkles Haar blond zu färben. Die Farbe war nicht besonders hübsch, aber sie ver h inderte, dass irgendwer in dem nahen Dorf sie erkannte. Die Wahrscheinlichkeit war ohnehin gering, weil es hier oben im U m kreis von zig Kilo m etern keine Kinos gab.
Manch m al überlegten sie ge m einsa m , was wohl m i t Iwans Leichnam geschehen war und wie es jetzt in der Villa aussa h . Sie ka m en überein s ti mm end zu dem Schluss, dass Masken alle Sp u ren beseiti g t haben musste. E r konnte sich den Skandal nicht leisten, dass i m Haus seiner Entdeckung ein Blutbad – und m anch anderes – stattgefunden hatte. N och weniger konnte ihm daran liegen, dass seine Ver w icklung in die Vorgänge bekannt wurde. Mit größter W ahrschei n lichkeit bedeutete das, dass sie keine Angst vor poli z eilicher Verfolgung haben mussten.
Und wenn sie selbst Anzeige erstatteten?
»Guten Tag, es geht um meine Doppelgängerin. Nein, keine I m itatorin. Ein Doppelgänger, Sie wissen schon … Genau, wie beim Fil m , der Trick m it der Doppelbelichtung. Schon davon gehört? … Ja, ich bin Schauspielerin … Richtig, genau die … Ob ich getrunken habe ? «
Und ganz abgesehen d a von: Was gab ihnen die Gewissheit, dass die I n itialen auf den Gläsern in Maskens Gehei m k a m m er nur Leuten aus der Filmbranche gehörten? Es m ochte and e re geben, Männer in hohen Positionen. Bei der Polizei, zum Beispiel.
Es war sinnlos. Sie waren allein m i t ihrem Gehei m nis, und vielleicht war es so am besten.
Sie unternah m en lange Spaz i ergänge a m Strand, drehten und wendeten die Dinge, klop f ten sie von allen Seiten ab, ohne dem Kern dieses Irr s inns a u ch nur einen Schritt näher zu kommen.
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