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Das zweite Gesicht

Titel: Das zweite Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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sie f r agte sich, wie es erst der anderen ergehen m usste, die von der Gegenüberstellung völlig ü b er r u m pelt war.
    Dann be m erkte sie Masken. Er ha t t e s i ch a l s E i nz i ger von seinem Platz erhoben und zu ihr u m gedreht. Ihre Blicke trafen sich. Seiner war kalt und wutentbrannt. Nie zuvor hatte sie ihn so gesehen: Er starrte sie an, als wollte er ihr hier und jetzt mit b l oßer Hand das Herz aus der Brust r e iße n .
    Für einen Augenblick genoss sie den Triumph. Dann aber sah sie, wie er sich vorbeugte und m it ein paar Männern in der Reihe hinter ihm s prach. Sie sahen sich ebenfalls zu ihr u m , sprangen auf und drängten durch die voll besetzte Zuschauerreihe zum G a ng.
    Die Lippen ihres Ebenbilds auf der Bühne for m ten die Worte » W er ist das ? «, aber das Mikrofon übertrug keinen Ton.
    Mehrere hundert Köpfe dreht e n sich, f olgten i h r e m Blick  – aber jetzt rannte Chiara s c hon zur Tür, und alles, was die Leute zu sehen beka m en, war eine junge Frau m it blondem H a ar.
    Im Türrahmen stand eine Frau.
    »Chiara«, sagte Henriette Hegenbarth. » W a s, zum  Teufel, geht hier vor?«
    Chiara s ch ü tt e lte den Kopf, hielt nicht an und rannte weiter.
    »Chiara!«, rief die Kolu m nistin, dann wurde sie zur Seite gestoßen, als die drei Männer aus dem Saal stür m t en und die Verfolgung aufnah m en.
    Chiara hatte keine W ahl. D e r kürzeste W eg füh r te durch den Haupteingang. Ein Angest e llter des Kinos sah sie, wunderte sich vielleicht, hielt ihr aber die Tür auf.
    Chiara biss die Zähne zusam m en und rannte hinaus. Der Applaus und die Rufe prallten von ihr ab, sie galten nicht m ehr ihr, sondern der Frau dort drinnen auf der Bühne. Manche m ochten sich wundern, weshalb sie rannte. Andere b e trac h teten es als T e il e i ner s elt s a m en Showeinla g e.
    Eine Hand voll Autogram m j äg e r hatte die Sperre durchbrochen und kam i hr entge g en. Sie hielten ihr Hefte und Blöcke unter die Nase, red e ten auf sie ein, wollten sie festhalten. S i e riss sich los und spürte, wie ihr Kleid an der Schulter zerriss, als ei f rige Hän d e sie packen wollten. Je m and brüllte, ver m utlich einer der Sicherheitsleute, und dann entstand neuer T u m ult, als ihre drei Verfolger die Autogram m j äger rück s i chtslos z u r Seite s tie ß en. Geschrei, Proteste und Buhrufe. Andere lachten über den Vorfall, ein paar schauten irritiert.
    Chiara erreichte das Ende des Teppichs und lief über die Straße. Ein W agen bre m ste, ein anderer knallte hinten drauf.
    Auf der anderen Straßenseite, hinter geparkten Fahrzeugen war sie vor den B licken der Menge geschützt. Die m eisten hatten sich ohnehin wieder dem Haupteingang zugewandt.
    Aber Chiara hatte k eine Chance.
    Sie war n o ch keine zwanzig Meter gelaufen, als der
    Erste sie einholte. E r packte sie an der Sc h ult e r. Die anderen schlossen in Windeseile auf, j e m and presste die Finger auf Chiaras Mund, sie verlor den Boden unter den Füßen, versuchte zu schreien und um sich zu schlagen, wurde aber in einen W agen gehoben, der plötzlich neben ihnen hielt. Man stopfte ihr Stoff in den Mund und drückte sie m it d e m Gesicht auf die Sitzbank, bis sie kaum noch Luft beka m .
    Als sie bald darauf sah, wohin m an sie gebracht hatte, versuchte si e aber m als zu sc h reien. Eine Glastür, ein langer Gang, dann trugen die Männer sie an Ar m en und Beinen eine Treppe hinauf. Eine Tür flog auf, weißes Licht quoll ihr e n tge g en. Das Weiß zog s i ch zu einer Gestalt zusammen.
    Noch m ehr Hände, zupackend wie Z angen. Ein Gesicht. Ein Lächeln über einem weißen Kragen.
    Der Arzt zwinkerte ihr zu, dann stieß er eine Kanüle in ihre Vene.
      
      
      
     
    Sechs u ndzwanzig
     

    Das Leben erwachte in ihr wie eine Gestalt im L i cht s trahl eines Filmprojektors. Und wie die Menschen auf der Leinwand, eben noch ungeboren, ohne Stimme und ohne Vergangenheit, so fühlte auch sie sich in diesem Moment, konturlos und nur von ein e m Gedanken bestimmt: Ich weiß nicht, wer ich bin.
     
     
     
     
    *
     
     
    Als sie erneut die Augen öffnete, war sie nic h t mehr all e in im Zimmer. Jemand hatte sie an den Schultern gepackt und schüttelte sie. Ihre Wange brannte. Was direkt vor ihr war, sah sie unscharf, verschwommen; nur das Entfernte war klar: die offene Tür und der leere Korridor dahinter.
    »Chiara!«
    Die Stimme eines Mannes.
    »Chiara, wir haben keine Zeit. Wir müssen von hier

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