Das zweite Gesicht
blitzschnell zwischen den Büschen, die an der Mauer entlangwuchsen. Um zum Haus zu gelangen, musste sie die weite Rasenfläche überqueren. Die verei n zelten Birkenstäm m e waren zu sch m al, um Schutz zu bi eten. S i e m usste sich dem Haus von der Rückseite nähern.
Sie drückte sich eine Weile im Gebüsch heru m , suchte nach der kürzesten Distanz, dem besten W i nkel, der von den wenigsten Fenstern überschaut werden konnte. Schließlich entschied sie, dass der Zeitpunkt gekommen sei. Sie brauchte nur S ekunden, um in den Schatten der weißen Mauern zu gelangen, aber es kam ihr endlos vor. Sie trug eine enge Hose, einen dünnen Rollkragenpullover und eine Jacke m it zwei großen Taschen. In einer steckte das Glas aus der Gehei m kammer.
Die Sonne war eben erst un t ergegangen, aber noch hatte der Him m el eine sch m utzig g r aue Färbung, die erst in ein paar Minuten in Dunkelheit üb e rgehen würde. C hiara hatte m it Absicht die Däm m e r ung gewählt, um ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen. Die Schic h t der W ächter am Tor endete in einer knappen halben Stunde; in diesen letzten dreißig Minuten waren die Männer am nachlässigsten, in Gedanken schon beim Abendessen. In ihrer Gereiztheit und Ungeduld hatten sie dem A u ftauchen des verbrannten Mannes m ehr Auf m erksa m keit geschenkt, als sie es wo m öglich zu Beginn ihrer Schicht getan hätten. Sagers Leute hatten sie lange genug beobachtet, um über jeden Schritt der Posten Bescheid zu wissen. Es gab sogar Listen, auf denen vermerkt war, wann die Männer ihren Rundgang über das Grundstück m achten, welche Lieferanten sie passieren ließen und wen sie kontrollierten.
Chiara presste sich m it d e m Rücken gegen die Hauswand. Wenn sie zur Haustür ging, würden die Posten sie m öglicherweise doch noch entdecken. S i e m usste versuchen, an der Rückseite in die Villa zu gelangen, durchs W ohnzim m er. Auf der Terrasse bran n t en m ehrere La m pen und beleuchteten den Rasen bis hinunter zum Ufer. Irgendwo dort unten war ein weiterer W ächter postiert, und er war es, der ihr S o rgen ber e it e te. Es war un m öglich, ihn über einen längeren Zeitraum zu beobachten, denn sein Platz war nur vom Wasser aus einzusehen; ein Boot hätte seine A uf m erks a m keit erregt, vor alle m , wenn es f ür l ä ngere Zeit still auf dem See lag.
Chiara zählte den Schlüssel der Terrassentür am Bund ab und schloss auf. Bei einem Blick über die Schulter entdec k te si e den W ächter am W asser. Er hatte ihr den Rücken zugewandt und schaute über den See, über dem die Nacht näher rückte, tiefschwarz und schwer. Er hatte sie nicht be m erkt.
Sie schlüpfte ins Haus und schob die Glastür hinter sich zu.
Es war ein sonderbares Gefühl, ins eigene Haus einzubrechen. Sie war s eit d rei Monaten nicht m ehr hier gewesen. Natürlich gab es keine S puren m ehr von de m , was da m als geschehen war, kei n e verräterisc h en Flec k en oder beschädigten Möbel s t ü c k e; wenn m an ein Verbrechen vertu s chen wollte, ha tte M ar m or durchaus seine praktischen Seiten. Und doch sch m eckte sie beim Anblick des Zim m ers wieder den Anisgesch m ack des Absinths auf den Lipp e n, sah die verzerrten Fratzen der Männer vor sich, hörte Nettes Schreie und das Klatschen von schweißnassem Fleisch auf Fleisch, die Schüsse aus der dia m antenbesetzten W affe und das Röcheln des Russen, als das Blut aus seiner zerfetzten Halsschlagader spritzte.
Und plötzlich war sie nicht m ehr allein.
Sie wusste n i cht, wie la n ge die andere bereits in der Tür gestanden und sie beobacht e t hatte. Sie stand dort vollkom m en reglos, in einem weißen Kleid, wie eine Schneekönigin in m itten der Mar m orwüste.
Chiaras Hand fuhr in die Tasche, u m fasste den R evolver, den Sager ihr gegeben hatte, – und ließ ihn wieder los.
»Ist noch je m and hier ? « , fragte sie.
Die andere antwortete nic h t, legte nur den Kopf ein wenig schräg und starrte sie an. Sie lächelte jetzt nicht m ehr wie oben auf der Bühne, aber der Schrecken in ihren Augen war wieder da, gepaart m it etwas, das Chiara für Neugier hielt.
»Ich …«, begann Chiara und brach dann ab. Von einem Mo m ent zum anderen wurde ihr klar, dass es keinen Zweck hatte.
Es waren keine Drogen. Und falls doch, so nur zu einem geringen Teil.
Langsam ging sie auf die and e re zu. Sie zögerte, dann trat sie b i s auf eine Ar m l änge an sie heran.
»Kannst du m i ch verstehen ? «
Sie ist hübsch, dachte
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