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Das zweite Gesicht

Titel: Das zweite Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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es.
    Chiara blieb a m Ende der ersten Reihe stehen, m it d e m Rücken an der W and, und nun be m erkte je m a nd sie, ein Pärchen am Rand, und beide nickten ihr grüßend zu und teilten ihre Entdeckung flüst e rnd ihrem Nachbarn m it. Ver m utlich ahnten sie die Pointe des Kurzfil m s und ver m uteten, Chiara w ürde von hier unten zur Bühne hinaufsteigen. Sie hatten den Spaß durchschaut und triu m phiert e n.
    Zögernd machte sie ein paar Schritte zurück, da m it Masken oder einer der and e ren sie nicht durch Zufall entdec k te.
    Auf der L e inwand kam der Zoopalast ins Bild. Eine abgehetzte Chiara stür m t e über die Straße, zwischen bre m senden Auto m ob i len hindurch, wich im letzten Mo m ent ein paar Pferdeäpfeln aus und lief durch den Nebeneingang. Sie rannte die Stu f en hinauf, durch eine  S e it e n t ü r …
    Und das Licht ging an.
    Chiara z uc kte e rschr o cken zusammen, obwohl sie gewusst hatte, dass das geschehen würde. Sie fühlte sich ertap p t, so a l s z e ige d e r Scheinwerferstrahl, der sich jetzt durch den Saal bohrte, genau auf sie und nicht hinauf zur Bühne. Alle Gesichter schauten in Chiaras Richtung – nicht zu Chiara auf dem Gang, sondern zu einer zw e it e n Chiara, die jetzt hi n t er d er L e inwand hervortrat und unter dem tobenden Applaus des Publiku m s ins Licht schritt. Dabei wurde sie vom Moderator des Abends an der Hand ge f ührt, was ebenso g u t Hö f lichkeit wie nöti g e Hil f e sein mochte.
    Chiara starrte stumm zu ihrem Ebenbild e m por.
    Sie trug dasselbe Kleid wie in dem Vorfil m , m a n hatte sie ein we ni g zurecht g e m acht, da m it sie etwas zerzaust wirkte – nicht zu sehr, im m erhin sollte s i e um wer f end erscheinen, nicht heruntergekom m e n –, und sie verzog das Gesicht auf eine W eise, dass sich die Chiara unten im Publikum fragte, ob sie selbst wohl auch so lächelte – selt s am verklärt und distanziert, ein Lächeln wie aufge m alt.
    Drogen, dachte sie. Sie haben sie unter Drogen gesetzt. Der Moderator trat an ein Mikrofon, machte ein paar galante Komplimente, gab das Wort aber nicht an seine Begleiterin weiter, die stumm neben ihm stand. Chiara fand, dass sie aussah, als hätte sie auch dann weitergelächelt, wenn der Mann sie auf offener Bühne beleidigt hätte. Warum sagte sie nichts? Die Pointe des Vorfilms verpuffte ins Leere, wenn auf der Bühne nicht darauf Bezug genommen wurde.
    Stattdessen bat der Moderat o r jetzt den Co-Star nach vorne:
    »Begrüßen Sie – die wunderbare E l ohim von  Fürstenb e rg!«
    Elohim erhob sich, das Publikum tobte, und dann standen die beiden Diven einträchtig auf der Bühne. Elohim ließ es sich nicht neh m en, zu den Zuschauern zu sprechen. Während sie ein p a ar begrüßende W orte sagte –
    »Es war im m er m ein größter W unsch, ein m al m it Chiara Mondschein ge m einsam vor der Kamera zu stehen« –, ließ ihre Fil m p a rtnerin den Blick über die vorderen Reihen wandern, m it seltsam stumpfen Aug e n über ihrem falschen Lächeln. W aren solche Auf t ritte in den vergangenen Monaten zur Regel geworden, sodass sich nie m and m ehr daran störte?
    Ihr Blick kreuzte den der Chiara unten auf dem Gang. Für Sekunden hob sich der Schleier vor ihren Augen: Dahinter war nichts als pures Entsetzen.
    Reglos sahen sie einander an.
    Die Frau auf der Bühne wurde blass, das Lächeln zerfloss.
    Sie weiß es nicht, dachte Chiara, sie weiß nichts von de m , was passiert ist. Nichts von mir.
    War das da oben das Origina l ? Oder hatte M as k en ei n e zweite Operation veranlasst und einen weiteren Doppelgänger geschaffen?
    War das überhaupt mö g lich? Und würde diese Doppelgängerin Bescheid w i ssen über die Monate im Bordell, über die Erniedrigung e n, die Abscheulichkeiten, den Missbrauch?
    Sie waren identisch, darüber täuschte auch ihre blonde Haarfarbe n i cht hinwe g . Die Leute, die ihr am nächsten saßen und sie vorhin be m erkt hatten, waren die ersten, die unruhig wurden. Nicht besorgt, dazu gab es keinen Grund, aber sie tuschelten und glotzten, und ihr Geflüster legte  sich wie ein Rauschen um den Kokon, in dem Chiara und ihr Spiegelbild auf der Bühne m it einem Mal eingewoben schienen.
    Elohim hatte ihre Ansprache beendet, und eigentlich war es jetzt an ihrer P a rtn e rin, noch etwas zu sagen. Doch Chiaras Ebenbild schwieg und starrte Chiara an, Unruhe im Publikum breitete sich aus.
    Chiara wich zurück, ging rückwärts den Gang hinauf. Schwindel überkam sie, und

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