Das zweite Gesicht
verschwinden!«
*
Unter ihren Füßen schepperte es metallisch. Eine Feuerl e iter. All d i ese Stufen hinunter, im Zickzack an einer Hauswand entlang. Ihr war kalt, und es war dunkel. Der Himmel über ih n en war pechsc h warz, sie s a h deutlich ein paar Sterne. Sie konnte den Großen Wagen erkennen, aber noch immer nicht das Gesicht des Mannes neben ihr.
Sie fror ganz erbärmlich, aber das lag nicht nur an der Witterung; sie fror vor Müdigkeit, vor Schwäche. Sie wollte s chlafen, endlich wieder sc h l a f en.
*
»Ihren Namen«, brachte sie atemlos hervor.
»Sager.«
»Sollte ich mich … daran erinnern?«
»Konrad Sager. Nein, Sie kennen meinen Namen nicht.«
*
Das Z i m m e r war spärlich m öbliert. Im Spiegel über dem Waschbecken sah Chiara ihr b l asses Gesicht, u m rah m t von strähnigen Haaren. Sie drehte sich zu dem Mann u m , der hinter ihr auf der Bettkante saß.
»Ich kenne Sie«, sagte sie. »Sie sind der Mann vom Güterbahnhof … natürlich.«
Sager nickte. »Daran er i nnern Sie si ch als o ?«
Die Erinnerungen flossen zurück in ihr Bewusstsein wie einzelne Körner durch das N a delöhr einer Sanduhr. Ganz all m ählich spürte sie, wie die Vergangenheit zurückkehrte.
»Sie können m i r vertrauen«, sagte er unverhofft behutsa m .
Sie schloss für ein paar Sekunden die Augen. » W as ist passiert ? « In einer plö t zlichen Anwandlung von Panik betastete sie ihren Bauch. » W as haben die m it m i r ge m acht ? «
»Keine Sorge«, sagte er, aber sie hörte nicht auf ihn, sprang auf und schob sich das Kleid über die Hüften nach
oben, bis sie ihren Bauch betrachten konnte. Da war im m er noch die Narbe von d a m als, aber kei n e zweite.
»Sie wurden nic h t op e riert«, sagte e r. »Aber ve rm utli c h hatten sie das vor.«
Ein wenig erleic h t ert, aber n o ch nicht gänzlich überzeugt, schob sie das Kleid w i eder nach unten. Sie fror, ihre Haut w ar m it einer Gänsehaut überzogen.
»Legen Sie sich ins Bett«, sa g t e er. » W ollen Sie etwas zu trinken, das Sie wärmt? Ich kann was besorgen.«
»Nein!« Das W ort kam ihr energi sc her als gewollt üb e r die Lippen. »Ich … n ein, bl e i ben Sie hi e r. Bitte.« Die Vorstellung, dass er fortgehen und sie zurück lassen würde, war wie eine F aust, die sich in ihre Ei ngeweide grub. Sie spürte eine körper l iche, verzehrende Angst vor dem Allein s ein.
Er stand auf, als sie an ihm vorbei zum Kopfende des Bettes g i ng. Das Kleid ließ s i e an, als sie unter die Decke schlüpfte, nicht weil sie sich schä m t e, sondern weil es sie zusätzlich w är m te. Sie fragte sich, wie lange sie es schon am Körper trug.
» W ie lange haben die … ich m eine, wie lange war ich eingesperrt?«
»Eine Nacht und einen Tag. Es kommt Ihnen länger vor, nicht wahr?«
Sie nic k te.
»Das liegt an dem Zeug, das die Ihnen gespritzt haben.«
» W as ist das gewesen ? «
»Irgendwas, das die Erinnerung ausradiert, wenn es oft genug und regel m äßig verabreicht wird. Ich glaube, dasselbe geben sie den …«, er zögerte, »… den Origin a l en.«
Sie erinnerte sich an d i e apathi s c h en Frauen in dem Bordell. Frauen m it berüh m ten Gesichtern, stumm und wille n l os.
»Sie hatten erst eine oder zwei Injektionen bekom m en«, sagte er. »Nicht genug, um bleibende Schäden anzurichten . «
»Dann wollten sie m i ch zu den anderen sperren ? «
»Sie m einen, in dieses … Lokal ? «
»Sie wissen davon ? «
»Mittl e rweile, ja. Ich hatte e i n Viert e lja h r Zeit f ür weitere Nachforschungen. Übrigens fehlt dort jetzt eine Attraktion. Masken hat Ihr Original da rausgeholt und lässt es Ih r e Rolle weit e rspi e l en. I r o nisch, nic h t wahr? S i e haben sie gesehen, in diesem Kino … Schauen Sie m i ch nicht so an, ich weiß, dass Sie dort waren. Es stand heute Morgen in den Zeitungen:
Mondschein-Double sorgt für Aufregung bei Premiere oder so ähnlich. Masken benutzt das Original wie eine Puppe. Sie tut, was er v e rlangt. Alle m unkeln von Abhängigkeit – von Drogen, Alkohol, sogar von Masken. Was glauben Sie, warum Masken seinen neuen Film m i t zwei Stars besetzt hat? Mit Chiara Mondschein allein ist kein Staat m ehr zu m a chen, sie wirkt abwesend bei den Dreharbeiten, vergisst ständig ihren Text. Masken brauchte Elohim von Fü r stenberg, um das wettzu m achen.«
»Elohim ist ebenfalls … er hat mit ihr dasselbe getan. Ich hab sie gesehen,
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