Das zweite Gesicht
. Vor allem f ür Jula, sie war ja die Ält e re.«
»Und dann ging Jula bei der erstbe s t en Gelege n heit nach Berlin, um nachzuholen, was Ihre Mutter verpasst hat.« Er sprach leise, ein W i spern gegen den W i nd. »Sie wollen es auch wissen, nicht wahr?«
Sie schaute ihn an, muste r te ihn von der Seite, die hässliche N arbe auf seiner W ange, das angegraute Haar, die scharfen Züge eines Raubvogels. Sie verstand, warum ihm irgendwer ein m al die Hauptrolle in der Verfil m ung von Hoffm a nns E l i x i e r e d es T e u f e l s angeboten hatte: Er war die perfekte Verkörperung desjenigen, der die Nähe zu allem Rätselhafte n , Abseitigen, Unergründlichen suchte. Für ihn war Jula m ehr als eine tote Freundin; sie war eine Herausforderung.
» W as wissen ? «, fragte Chiara.
»Sie wollen rausfinden, was in ihr vorgegangen ist. Weshalb sie so geworden ist.« E r war nun schon der zweite, der das feststellte, als wäre ihre lange u n terdr ü ckte Neugier über Julas Leben m it e i nem Mal als griffiger Satz auf ihrer Stirn eingraviert.
»Ja«, gestand sie, »ver m utlich schon.«
Sie verließen das Haus. Draußen bückte er sich nach einem Gra s hal m , wickelte ihn langsam um seinen Finger wie ein Stück Faden und sah dann zu, wie seine Fingerkuppe sich weiß färbte. »Dann neh m e n Sie die Rolle a n ?«
Er wollte sie überru m p eln, aber ihre Entschei d ung war schon vor dem Besuch im Haus gefallen, noch während des Gesprächs m it Henriette im Romanischen Café.
»Ja«, sagte sie.
»Gut.«
»Das ist a ll e s? Gut?«
» W as erwarten Sie? Dass ich vor Dank auf die Knie f a ll e ?«
»Das habe ich nicht gesagt«, entgegnete sie, fast froh darüber, dass dieser sel t sa m e Augenblick stiller
Übereinkunft zwischen ihnen beendet war.
»Ich freue m i ch«, sagte er. »Natürlich tue ich das. Und ich werde dafür sorgen, dass die Arbeiten so schnell wie möglich beginnen können … weitergehen können, sollte ich sagen.« Er drehte sich um und blickte zurück zum Haus, das sich leuchtend weiß von dem farblosen Himmel abhob. Auch hier im Garten r a uschten die Blätter m ehrerer Birken. Die Bäu m e waren viel älter a l s d i e Villa, und Chiara fragte sich, ob Jula die s en Ort auch ihretwegen ausgesucht hatt e ; weil das W e iß der Birken d as gleic h e war wie das des Schneepalasts, d e n si e hier errichtet hatte.
»Noch etwas«, sagte er. » W enn Sie das Haus wirklich nicht haben wollen …«
»Ganz sicher nic h t.«
»… dann sollten wir Ihnen wenigstens ein vernünftiges Hotel bes o rgen. W i e wäre es m it dem Adlo n ? Komfortabler können Sie nic h t wohnen.« Er be m erkte ihr Erstaunen und fuhr eilig f o rt: »Die Kosten überneh m e selbst v er s t ä ndlich ich. Keine S orge, das ist kei n e Sonderbehandlung. Ich quartiere alle Schauspieler dort ein – also denken Sie sich nichts dabei.«
»Auch Jula, neh m e ich an.«
»Zu Anfang schon. Es wird Ihnen gefallen, glauben Sie m i r. Der Wintergarten ist trau m haft, und Sie sollten m al zu einem der berüh m ten Tanztees a m Nach m ittag gehen. An einem Ihrer freien Tage, m eine ich.«
Fehlt nur noch, dass er m i r zuzwinkert, dachte sie.
Das tat e r nicht, a b er seine pl ö t zl iche Gesc h ä f tigkeit wirkte zu u nver m ittelt, um ganz überzeugend z u sein. Als wäre er sicher gewesen, dass sie zusagen würde. Das gefiel ihr nicht, ließ sich aber nicht ändern.
»Und wenn Sie nach dem E nde der Dreharbeiten in
Berlin bleiben wollen«, sagte er, »können wir die Kosten für das Hotel m it dem Verkauf des Hauses verrechnen. Ich kann einen Makler beauftragen, wenn es Ihnen recht ist.«
»Sicher, natürlich.« Ihr kam es vor, als würde sie da m i t auch ein Stück ihrer Erinne r ung an Jula verkaufen. Aber es war Julas Erinnerung, nicht ihre. Falls Jula mit diesem Haus tatsächlich einen Teil ihrer Kindheit h a tte nachholen wollen, dann war er ge m eins a m m it ihr gestorben. Das Haus hatte seine Schuldigkeit getan.
»Ich bringe Sie zu Ihrer Pension«, sagte er. » S ie können in Ruhe Ihre Sachen packen, und in der Zwischenzeit kläre ich alles m it dem Adlon.«
Sie nickte, und Masken führte sie durch den Garten zum Tor, so als hätte das H aus auch in seinen Augen endlich seinen Zwe c k er f üllt.
Es war nicht wirklich das Haus, das sie erschrec k te, sondern et w as, das sie darin gesehen hatte. Jula hatte diese Räu m e noch nicht verlassen, auch wenn ihr Leichnam unter der E rde lag. In diesen M a
Weitere Kostenlose Bücher