Das zweite Gesicht
Schwester. Und trotzdem sind Sie noch in Berlin, obwohl Sie gleich nach der Beerdigung hätten verschwinden können.«
Ihr Tonfall geriet eine S pur schärfer, als sie bea b sichtigt hatte. »Ich denke nicht, dass ich das unbedingt m it Ihnen diskutieren will.«
»Soll ich Ihnen die Antwort geben?«
»Nein.«
»Ich ver m ute, Sie haben Angst davor, nach Hause zu fahren.«
»Hören Sie auf!«
»Dort erwartet Sie nichts. Nur das leere Haus und die lee r e W erkstatt Ihres Vaters. Keine Zu k un f t, keine Träu m e.« Er hob den S chlüss e l und schwenkte ihn. »Das hier ist ein T rau m . Und ei ne Zukunft, wenn Sie wollen.«
» W ollte J u la desh a l b nichts m ehr m it Ihnen zu tun haben? W eil Sie versucht haben, ihre Zukunft für sie in die Hand zu neh m en ? «
Masken lächelte, und es w i rkte so unerschütterlich freundlich, dass sie schlucken m u sste. »Ein paar Jahre lang ist sie ganz gut da m it gefahren, denken Sie nicht ? «
»Bis sie sich von Ihnen gelöst hat.«
»Und nun ist sie tot.«
Sie starrte ihn an. » W ollen Sie da m it sagen …«
»Jula hat sich u m gebracht, weil sie m it der W elt nic h t m ehr zurechtka m . Weil sie je m anden gebraucht hat, der sie bei der Hand n i m m t und führt. Aber sie hat nie m anden nah genug an sich heran gelassen. Ob das unbedingt ich hätte s ein m üssen? Das weiß ich ni c ht.« Sei n e Bescheidenheit klang wenig glaubwürdig. »Fest steht, sie war allein, als sie starb, obwohl sie zuvor die W ahl gehabt hat. Und die haben Sie jetzt auch, Chiara. Zwischen dem Alleinsein, der Ungewissheit und all dem hier.«
Sie blickte an der wei ß en Fassade e m por, weiß wie die Birken, weiß wie alles auf diesem Grundstück – das sch m iedeeiserne Tor, die breiten Kieswege, die Mar m orputten auf dem ung e m ä hten Rasen und die Einlege a rbeiten d e r H a ustür aus El f enbeinimit a t. All e s weiß, so als hätte Jula d em öffentlichen Bild der Dunklen Diva in i h rer priv a t en W elt bewus s t entgegeng e wirkt.
Klinisch weiß waren auch die Wände des Leichenschauhauses gewesen, Julas Haut, ihre blutleeren Lippen und das Totenkleid, in dem m an sie aufgebahrt hatte.
»Können wir jetzt reingehen ? «
Masken n i ckte und schloss die Tür auf. W eißer Mar m or am Boden, weiße Holztäfe l ungen, Tapeten und Möbel. Keineswegs kahl, eher üppig in den Details, und doch so kühl, als wäre alles m it einer Schicht aus frisch gefallenem Schnee be d eckt. Mas k en führte sie durch einen Salon voller Spiegel, in eine Bar und durch eine Küche m i t Knäu f en aus Perl m utt; in ein Kino m it zwanzig Sesseln aus weißem Leder; vorbei an versiegten Springbrunnen, deren Fontänen sich einst in muschelför m i ge Becken ergossen hatten; durch ein W ohnzim m er m it m ehreren Ebenen und einer versenkten Badewanne am höchsten Punkt, von der aus m an durch eine Fensterfront hinaus auf den See blicken konnte; in eine Bibliothek, in deren Regalen nur eine Hand voll gebundener Filmmanuskripte lagen, nichts sonst; durch eine Reihe luxuriöser Gästezim m er, in denen er sie auf verstec k te Gucklöcher in den W änden auf m erksam m achte, die auf d i e Betten gerichtet waren; und, zul e tzt, in Julas eigen e s Schla f zimmer, dessen Bett der stili s i e rten F orm einer Schneeflocke nache m pfunden war, m it weißem Plüsch besetzt und unter einem Baldachin aus Spiegelglas, pris m enartig zusam m engesetzt, um jeden W i nkel des Rau m s zu erfassen. Auf einem Si m s saß eine einsa m e Puppe. Hier hatte das Hau s m äd c hen Julas Leichnam gefunden.
»Ist Ih n en etwas an d en Türen aufgefalle n ? « , fragte Masken, dem es offenbar Spaß m a chte, sie in Staunen zu versetzen.
Sie nickte. »Die Klinken sind ungewöhnlich hoch angebracht.«
»Jula reichten sie bis zur Schulter. Ihnen auch, nicht wahr ? «
» W arum hat sie das veranlasst?«
Er zuckte die Achseln, und sie dachte, dass er Jula vielleicht doch nicht so gut gekannt hatte, wie er vorgab.
»Sie hat’s mir nicht verraten.«
»Als wir Kinder waren, k a m en uns die Türklinken zu Hause genauso hoch vor«, sagte sie. »Man m u s ste im m er nach oben g reifen, um eine Tür aufzu m achen. Hier ist es genauso. Und nicht nur die Kl i nken. Auch die Türen selbst sind zie m lich hoch für ein neues Haus, finden Sie nicht ? «
»Jula h a t es so gewollt.«
Sie schaute sich u m , und m it einem Mal war i h r, als sähe sie das ganze Haus m it neuen Augen. » W ie die
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