Das zweite Gesicht
Fragen.
»Ich habe das Drehbuch aufs Bett gelegt.« Er deutete durch die o f fene Tür ins Schlafzimmer. »Und eine Müller- Ausgabe von Poes Original. Lesen S i e beides durch. O ja, bevor ich’s vergesse: Den Vertrag bringe ich Ihnen morgen vorbei, vielleicht können wir dann essen gehe n ? Bezahlt werden Sie nach Drehtagen . «
Sie nickte flattrig und vergaß zu fragen, wie hoch die Bezahlung denn sein würde. A b er eigentlich i n teressierte sie das ohnehin nicht.
Er reichte ihr zum Abschied die Hand. An der Tür blieb er noch ein m al stehen und lächelte wieder, dies m al wär m er, w e niger fahrig. »Sie können sich nicht vorstellen, wie froh ich bin, dass S i e zug e sagt haben. Mein Ruf hängt an diesem Fil m , aber d a s ist n i cht alles. Er ist J ulas Erbe an die Filmwelt, nicht wahr ? «
Julas Erbe. Sie war drauf und dran, ihm von d e m Zettel zu erzählen. Sie hätte ihn fragen können, ob er etwas über geheim gehaltene Kinder oder andere dunkle G ehei m nisse wusste. Aber dann nickte sie erneut und erwiderte sein Lächeln.
»Morgen um zwölf ? «, fragte er.
»Gerne.«
Nachdem er gegangen war, verschloss sie die Tür und at m ete tief durch. Es war I r rsinn. Völliger Irrsinn. Sie würde sich so albern a n stellen, dass Maskens »Fil m welt« noch in zwanzig Jahren darüber lachte.
Zu spät. Jetzt kannst du die Suppe nur noch auslöffeln.
Oder dich morgen weigern, den Vertrag zu unterschreiben. Sag ih m , du hast es dir anders überlegt.
Mit einem Seufzer gi n g sie ins S chlafzim m e r . Jed e r Schritt e rs c hien i h r u n wirkli c h, fast schwebend, als triebe sie ein starker Rückenwind vorw ä rts, n i c h t i h re e i genen Entscheidungen.
Das Drehbuch war ein gebundener Stapel Papier, Durchschläge von Schreib m aschinenseiten. l. Akt, s t and oben auf der ersten Seite.
1. Bild: Trübe Landschaft. Abendstimmung. Ein dunkler Herbsttag. Ein Mann, Edgar Allan Poe, auf einem Pferd, trabend in der D ämmerung. Plötzlich vor ihm – der mächtige Umriss eines Hauses.
2. Bild: Haus Usher. Das Stammhaus der Familie. Abweisende Mauern, leere Fensterhöhlen. Ein paar Büschel Binsen, kahle B äume.
TITEL: Als sich die Abend s chatten niedersenkten, sah ich das S t a mmhaus der Familie Usher. Unerträgliche Düsterkeit b reitete s i ch über meine Seele.
Chiara blätterte die Seiten dur c h. Fast rechnete sie da m it, dass dies J u las Exe m plar war, so wie dies ihre Suite und der Film ihr Film gewesen waren. Doch sie fand keine handschriftlichen Anme r kungen, die ihre Ver m utung bestätigt hätten. Das Drehbuch wirkte frisch und ungelesen.
Sie nahm d i e Sammlung von Poes Geschichten zur Hand und legte sich da m it aufs Bett. Sie kam bis z ur dritten Seite, ehe sie erschöpft die A ugen schloss und einschlief.
Fünf
Ein Pochen an der Tür weckte sie u m halb sec h s. Masken hatte eine Kostümbildnerin beauftragt, Julas Fil m garderobe auf Chiaras Maße u m zuändern. W i e sich herausstellte, waren nur kleine Ä nderungen nötig. Sie hatten beide den Körper ihrer Mutter geerbt, kindlich schlank, m it langem H a ls und den kleinen Brüsten, die beide Mädchen in ihrer Jugend m e hr als ein m al verflucht hatten. Julas Karriere jedenfalls schienen sie nic h t abträglich gewesen zu sein.
Die Kostümbildnerin redete n i cht v i e l , obg l e i ch Ch i ara herausbekam, dass sie früher oft für Masken und wohl auch ei n i ge Male für Jula gearbeitet hatte. Bev o r sie nach knapp einer Stunde wieder ging, war sie ein wenig gesprächiger geworden. Hatte sie erwartet, dass die Begegnung unangenehmer verlaufen würde? Hatte Jula sie schlecht behandelt? Chiara hatte versäu m t , die Frau danach zu fragen.
Sie hatte kaum die Tür ges ch l os s en, als es aber m als klopfte. Dies m al war es eine hektische, überfreundliche Verkäuferin aus einem Bekleidungsgeschäft im Erdgeschoss des Hotels, e i ner Filiale von Flatow & Schädler. E i n Page rollte hinter ihr einen m annshohen Koffer ins Zimmer, bedankte sich für das Trinkgeld und ging. Masken hatte keine Zeit verschwendet und gleich da m it begonnen, Chiaras Leben neu zu organisieren. Die Verkäu f erin sollte sie ei n kleiden, n i c ht in Gala kl eider, wie Chiara schon befürchtet hatte, sondern in e i n paar gerade geschnittene Futteral k l e ider, eini g e bis zur W a den m itte, andere der jüngsten Mode ent s prechend länger, aus Seide, o f t m it Perlen bestic k t ; dazu, f alls sie
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