Das zweite Gesicht
wollte, ein paar
Flanellhosen und Blusen. Die Verkäuferin entschuldigte sich d rei m al für die g eringe Auswahl, aber tat s ächlich fand Chiara die Auswahl größer als in den Geschäften, die sie a u s Meißen kannte – zu m indest jenen, die sie sich leisten konnte.
»Herr Masken hat gesagt, i c h soll das zusam m enstellen, was Ihrer S chwester gefallen hätte. Aber Sie sind doch eine eigene Persönlichkeit! Deswegen habe ich auch noch ein paar an d ere Teile m itgebrac h t.«
Nach dies e n W orten verzieh Chiara ihr s o gar i h r aufgekratztes Getue und beschloss, sie zu mögen. Sie wählte nur Stücke aus, die ihr selbst gefielen, ohne Gedanken an Jula oder Masken. Die Rechnung gehe an den Herrn, erklärte die Verkäuferin; sie s o lle Chiara ausrichten, der Betrag werde später verrechnet, und ob ihr das rec h t sei?
Nachdem Chiara sich gewaschen hatte, fuhr sie einiger m aßen erfrischt m it d e m Aufzug hinab zur Rezeption und ließ sich auf einem Stadtplan die Grenadierstraße zeige n ; do r thin hatte der unbekannte Zett e lsch r eiber s i e b est e llt. D e r Angest el lte fr agte konsterniert, ob sie sicher sei, dass sie dorthin wolle, und als Chiara fragte, was so schlimm daran sei, se n kte er die Stim m e und erzä h lte ihr ein p a ar Dinge über diese Straße und das u m liegende Viertel. » W enn Sie es wünschen«, schloss er för m lich, »kann ich je m anden vom Personal zu Ihrer Begleitung abstellen.« Sie fand das erstaunlich, lehnte aber ab. Nicht so sehr, weil si e ein wenig Sicherheit nicht zu schätzen gewusst hätte, sondern weil ihr davor graute, den ganzen Weg über mühs a m Konversation m achen zu müssen.
Es waren etwa zwei Kilo m eter bis zur Grenadierstraße. Sie hätte einen W agen neh m en können, hatte aber noch genug Zeit und dachte, dass die frische Luft ihr gut tun würde. Vielleicht sorgte der kühle A bend dafür, dass sich das Durcheinander in ihrem Kopf ein wenig ordnete.
Sie folgte dem Boul e vard Unter den Linden bis zu seinem östlichen Ende am Kaiser-Joseph- P l atz, lief an Schloss und Dom vorbei zum anderen Spreeufer, überquerte in der Nähe des Bahnhofs Alexanderplatz die Dircksenstraße und betrat das, was der Mann an der Rezeption diplo m atisch einen »wenig schönen Ort, glauben Sie m i r« genannt hatte.
Mit drei, vier Schritten v e r ließ sie d as B e rlin d e r Boulevards und Paläste, der Luxuskarossen und gepflegten F assaden. Das Scheunenviertel e m pfing sie m i t finsteren Gässchen und sch m utzigen Straßen, deren Schatten ihr m ehr Angst einja g ten, als sie s i ch eingestehen wollte. An d en Ecken b u hlten Ob s t - und Ge m üs e verkäufer lautstark um Kunds c haft. Hausierer m it Bauchläden verkauften Hosenträger und Schnürsenkel, Knöpfe, Strü m p fe, Hand- und Tischtücher. Menschen, an denen Chiara vorbeika m , drang Tabakgeruch aus den Kleidern, Arbeiter in den nahen Zigar e ttenfabriken. Hinter vielen Türen lagen Betstuben und Tal m uds c hulen, und entspreche n d ausstaffiert waren viele Män n er auf den Straßen: Kaftan, Bart, P ejes und Scheitel, verrieten schon von weitem, dass dies Berlins jüdisches Viertel war, Endpunkt zahlloser Fluchten aus Galizien, Polen und Russland.
Aber nicht der Glaube der Menschen hier war es, der Chiaras ersten Eindruck des Scheunenviertels prägte, sondern die bittere Armut. Sie sah einen kleinen Jungen, der eines von unzähligen po l itisc h en Plakaten an den Wänden herunterriss und seinen halbnackten O berkörper m it den Fetzen umwickelte. Viele, vor allem d i e Kinder, wirkten so v erwahrlo s t wie die Gebäude, in denen sie m i t viel zu v i elen Menschen hausten. Chiara schauderte vor
Abscheu und Mitleid.
Ein widerliches Ge m is ch von Gerüchen verschlug ihr den Ate m . In einem Rinnstein saß ein Mann und bearbeitete den Fuß einer fetten F r au m it ein e m Messer, ein Gumm i absatzhändler, der da m it ein paar Pfennige verdie n t e. Sie wich eilig sei n em halbblinden Blick aus, als sie ihn p assierte. Aus ein e r Kneipe t or kelte ein betrunkenes Mädchen m it zerschlagenem Gesicht, an der Hand ein Kind m it einer zerfransten Stoffpuppe im A r m, kaum alt genug zum Laufen. N a ch ein paar Schritten wurden beide von einem Mann angesprochen, ein paar Münzen wechselten den Besitzer, u nd alle ver s chwanden ge m eins a m in einem dunklen Hauseingang, Mann und Mädchen und Kind und Puppe.
Irgendwer hatte das Scheunenviertel ein m al »Berlins Whitechapel« genannt, in
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