Das zweite Gesicht
Anspielu n g auf Jack the Rippers Londoner Jagdgründe, und nun erkannte Chiara fröstelnd, weshalb. In Eingängen, unter Torbögen und an Straßenecken stan d en Frauen in sch m utzigen Mänteln, m anche m it nackten Beinen unter den Röcken, andere m i t zer r i sse n en S t rü mpf e n ; Ringe unter den Augen, aufgeplatzte Lippen, geschwolle n e Lider, entstellt von Entzündungen und E kze m en, vom Suff oder von dauernder Müdigkeit. Einige v er h andelten m it Män n ern um ein paar Pfennige, andere st a rrt e n le e r ins N i chts, auf Mörtel, der von Fassaden bröckelte, auf Müll am Straßenrand. Ihre Kundschaft war ebenso arm wie sie selbst, denn wer Geld hatte, suchte sein Vergnügen anderswo, auf d e m Ku r f ürstendamm oder am Nollendorfplatz.
Chiara hatte Angst, und sie bereute, hergekom m en zu sein. Doch gerade als sie u m drehen wollte, f i el ihr Blick auf das Schild »Grenadierstraße«.
Das Lu m p a zivagabundus unterschied sich nicht von anderen Kneipen in dieser Gegend, war so heruntergekom m en wie seine Gäste, stinkend nach Rauch und schalem Bier. W i derwillig und m it einem starken Ekelgefühl trat Chiara ein. Es war nicht so voll, wie sie befürchtet hatte. Die Hälfte der Tische war leer und jeder Neuanköm m ling erregte Aufsehen. Chiara trug dieselben schlichten S achen wie bei ihrer Ankunft in der Stadt, doch selbst d a m it war sie besser gekleidet als jede andere Frau am Tresen oder an den Tischen. Z u m Glück war es so düster, dass die m eisten k a um m e hr als ihren U m riss aus m achen konnten, und sie wandten sich rasch wieder ihren Gläsern oder Gesprächen zu. Nur eine dicke Frau, die an einem Tisch in der Ecke saß und eine Metalldose vor sich hatte, hielt den B lick unverwandt auf Chiara geric h tet, als hätte sie s i e erwartet.
Chiara überlegte kurz, ob sie zu der Frau hinübergehen sollte, ent s chied sich d ann a b er dagegen. Sie setzte sich m it flau e m Magen und weichen Knien an einen Tisch nahe der Tür und wartete, dass irgendwer sie fragte, was sie trinken wolle. Der W i rt hatte m it ein paar zerlu m pten Gestalten zu tun, die lautsta r k ihre morgigen Bettelrouten absprachen und dabei laufend neue Runden bestellten, zwei schon seit Chiara eingetreten war; der Tag m usste ihnen erfreuliche Einkünfte beschert haben. An einem Tisch in der Nähe saß ein e i narmiger Drehorgelspieler, sein linker Rockär m el hing sch l aff an der Seite herab. Mit der Rechten führte er ein Schnapsglas zum Mund. Danach fo r m te er die feuchten Lippen zu einem Pfiff, und auf Kom m ando schoss ei n e Ratte aus seine Jac k entasc h e, flitzte zu seiner Schulter hin a uf und blieb d o rt sitzen wie der Papagei eines P i ratenkapitäns. Der Mann zwinkerte Chiara zu und grinste zahnlos. Sie wandte eilig den Blick ab.
Die m eisten Gäste waren P r ostituierte von der Straße.
Die einzel n e Frau in d er Ecke a b er sc h i en ein anderes Geschäft zu betreiben. Chiar a s Augen hatten sich an das schwache L i cht gewöhnt und erkannten jetzt ein wenig m ehr. Die Frau war alt, viell e icht an Jahren, vielleicht auch nur vom Leben im Scheunenviert e l. I h ren f etten L e ib hatte sie in einen grotesk engen Mantel gezwängt, an den Füßen trug sie Ar m eestiefel. Keiner der Männer und Frauen redete m it ihr, und obwohl neben ihr der Ofen prasselte, hielten alle einen m erklichen Abstand. Das bisschen Wär m e war es offenbar nicht wert, sich dafür in ihre Nähe zu wagen. Chiara hatte m ehr und m ehr das Gefühl, dass die Alte es war, die sie herbestellt hatte, zu m al sie ein u m s and e re Mal zu ihr herüber sah. Doch noch im m e r brachte Chiara nicht den Mut auf, sie anzusprechen. W i eder und wieder sagte sie sich, dass es ein Fehler gewesen war, überhaupt herzukom m e n.
Die Tür ging auf, und eine Frau kam m it einem kleinen Mädchen herein. Beide gingen zu der Alten hinüber; das Mädchen ließ sich apathisch durch die Kneipe führen. Die Frau lieferte das Ki n d ab wie etwas, das sie nur ausgeliehen hatte, und schob der Alten nach einem kurzem Wortwechsel ein paar Münzen über den Tisch. Das Kind war ge m i etet, wirkungsvolles Bei w erk auf der Betteltour seiner an g e b lichen M u tter. D i e Alte beschi m pfte die Frau, und diese zahlte eine weitere Hand voll Münzen, ehe sie sich ohne ein weiteres Wort verzog. Die Tür fiel hinter ihr zu, das kleine Mädchen blieb bei der Alten.
Chiara hatte die Szene zu lange beobachtet, denn nun warf die alte Frau ihr erneut
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