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Das zweite Gesicht

Titel: Das zweite Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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der ihr die Nachricht geschrieben hatte. Wer sonst hätte einen Grund gehabt, ihr dort drinnen zur Hilfe zu kommen?
    Sie bog um eine Ecke – und wurde von Händen gepackt, die sie in einen Hauseingang zerrten. »Lass m i ch!«, schrie sie und schlug m it Fäusten nach de m j enigen, der sie festhielt und tiefer in den Flur zog.
    »Nicht!«
    Die Stimme alar m i erte sie, aber noch war sie zu verängstigt, zu sehr in Panik, um vernünftig zu reagieren. Sie wehrte sich auf je d e nur erde n kliche W eise, ehe die Stim m e aber m als zu ihr durchdrang.
    »Hören Sie schon auf, verdammt! Ich will Ihnen helfen!«
    Chiara hielt inne, während von der Straße w ütendes  Gebrüll ertönte.
    »Kom m en Sie!« Eine Frau, nein, fast noch ein Mädchen zog sie m i t sich d i e Stufen eines Treppenhauses hinauf.
    »Machen Sie schon! S onst findet die Bande Sie doch noch.« Sie sprach so schnell, dass Chiara die Worte eher intuitiv e r f a s ste, a l s dass sie sie wirklich verstand.
    Die Treppe hinauf und einen weiteren Flur entlang, an zuschlagenden Türen vorbei, hinter denen aufgeregte Stim m en und Kindergeschrei e r tönten. Je m and rief nach der Polizei, ein anderer brü l lte auf Jiddisch. Alles nur
    ihretwegen? Von wegen – sie hörte das Poltern schneller Schritte auf den Stufen, von m ehr Männern, als sie für möglich gehalten hatte. Sie hatte ihre Verfolger nicht abgeschüttelt, und das begriff im selben Mo m ent auch die junge Frau, die sie führte.
    »Hier rein!« Sie s t ieß eine unverschl o ssene Tür auf, und im nächsten Augenblick standen sie in einer Küche voller Menschen. Eine jüdi s c h e Großf a m ilie saß rund um einen Tisch, auf dem ein karges Abendessen dampfte. Die Männer waren alle schwarz gekleidet. An einer W and stand eine Holzbank, auf der drei Paare saßen – H uren und ihre F r ei e r. Chiara be g ri f f erst beim z w eiten Hinsehen, dass sie vor der Tür eines Schlafzimmers warteten, das derzeit wohl noch von einem anderen Paar in Beschlag genommen wurde.
    » W eiter«, raunte die junge Frau ihr zu, »laufen!«
    Und d a m it stür m t e sie zwischen dem gedeckten Tisch und den w a rtenden Paaren hindu r ch zum Fenster, riss es auf, rief Chiara noch ein m al zu, ihr zu folgen und kletterte hinaus auf eine der Eisentreppen, die es hier an den Rückseiten der m eisten Häuser gab. Chiara horchte auf die näher ko mm enden Schritte im Korridor, achtete nicht auf das fluchende F a m ilienoberhaupt, das endlich seinen Schrecken überwunden hatte, und folgte der Frau durchs Fenster.
    Die war bereits weiter hin a ufgestiegen, nicht hinab zum Hof, wie C hiara erwartet hatte. Einen Herzschlag später erkannte sie auch, weshalb, denn dort unt e n versammelten sich m ehrere Gestalten, Spie ß gesellen d er Alten ver m utlich, die j e tzt wild zu ihnen h erauf gesti k uli e rten.
    Zwei Etagen weiter oben erreichten Chiara und ihre Retterin das Ende der S t ufen. Die junge Frau schlängelte sich behände durch eine Luke auf einen dunklen  Dachboden. Dabei blieb sie m it ihrem viel zu großen Mantel an einem Nagel häng e n und riss sich den Saum au f . Chiara f olgte ihr.
    »Hierher!« Die Stim m e der Frau führte sie durch das Dunkel, vorbei an Kisten und Truhen und durch ein Gewirr von W äscheleinen, die den Speicher wie ein Spinnennetz durchzogen. Von unten konnten sie die Rufe ihrer Verfolger hören, aber noch war keiner hier oben.
    Die junge Frau öffnete nach einigem Ziehen und Zerren eine Metallluke, die zum Dachboden des Nachbarhauses führte. Nachdem beide hindurch waren, schoben sie von der an d eren Seite e i ne Kiste d avor. Noch ein Speicher, noch ein Haus, und durch m ehr verzogene Türen und muffige Verschläge, als Chiara in ihrer Aufregung zählen konnte.
    Und dann, nach einer halben Ewigkeit, blieb die junge Frau stehen, legte einen Finger an die Lippen, horchte ins Dunkel und registrierte m it Z u friedenheit die tiefe Stille, die sie u m g a b.
    »Geschafft«, flüsterte sie. »Die sind wir los.« Ihr At e m raste ebenso wie der v o n Chiara, aber irgendwie brachte sie es f ertig, dabei noch zu sprechen. Ver m utlich hatte s i e Erfahrung mit Verfolgungsjagden.
    » W as schaun Sie m i ch so an? Ach, das ist es … Ob ich für Geld ficke, oder? Ja, gn ä dige Frau, das tue ich, und nicht m al schlecht.« Sie lächelte trotzig, und das gnädige Frau klang wie eine Beleidigung. »Aber ich bin keine von denen da unten, wenn Sie’s genau wissen wollen. Keine von Car m e litas

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