Das zweite Gesicht
ne Erhöhung in der Mitte, wo einst am Sabbat der W o chenabsch n itt verlesen worden war. W eiter vorne hatte m an das Pult des Vorbeters niedergebrannt, ein kohlschwarzes Quadrat verriet noch seinen Standort. E i n paar Stufen führten links und rechts zu Nischen in den W änden, aber die heiligen
Rollen, die früher dort aufbewahrt worden waren, gab es nicht m ehr. Auch hier ü bera l l Pfützen am Boden, in einer lag ein blankes Vogelgerippe.
Zulet z t die s i ebte S t atio n .
Rinn s al e a n de n W ä nde n hatte n di e Ziege l g r a u un d den Mörte l fortgewas c hen . Ei n G e w i r r au s Ba l ke n sa h aus , als stützt e e s di e Mauern , w a r i n W a h r he i t abe r vie l z u morsch.
Auch dieser Ort hatte Ä hnlichkeit m it einer Scheune, ge m auert zwar, aber m it hölzernen Verschlägen rechts und links, die ein m al Pferdeboxen gewesen sein m ochten. Manche dieser Trennwände waren eingerissen, in anderen zeichneten s i ch Löcher in einer Form ab, als wäre je m and durch das Holz gebrochen und hätte seinen U m riss zurückgelassen wie einen verlorenen Schatten. Aber die Form mochte Zufall sein, und tatsächlich w ar es zu dunkel, um sie deutlich zu erkennen.
Am anderen Ende war ein W asserloch, diffus und vage hinter Vorhängen aus Dunkelheit. Näher heran, noch näher, und dann …
Ein Blick hinein.
Chiaras Eb e nbild im W a sser, i h r Spiegelbild.
Ihr Spiegelbild, das Fleisch wird, und Haar, und Leben.
Ihr Spiegelbild, das aus der Tiefe heraufstößt, die Hände in perlenden Fontänen aus d e m W asser s t reckt u nd Chiara an den Schultern packt.
E s s i eh t si e an , W a s s ertropfe n i n d e n Aug e n , i m sc hwa r - zen , glatte n Haar , au f de r n a ckten , schim m ernde n Haut.
Chiara beginnt zu weinen.
Ihr Spiegelbild schreit wie ein Neugeborenes.
Zwölf
Ihr Bauch tat weh, aber sie lebte. Sie spürte ihre Ar m e, ihre Beine, und sie konnte sie unter der Decke anheben, aus eige n er Kraft, ein Körperglied n ach dem anderen.
»Gott sei Dank.« D a m it wurde ausgesprochen, was sie dachte, aber nicht von ihr.
Sie öffnete die Augen. Helligk e it flutete ü b er si e hinweg und presste sie wie m it Händen zurück ins K i ssen. Ein überraschter Laut kam über ihre Lippen, ihre Hände ballten sich unter der Decke zu Fäusten.
»An das Licht werden S i e sich wieder gewöhnen«, sagte die Stim m e links neben ihr. »Der Arzt sagt, es wird schnell gehen. Machen S i e sich keine Sorgen.«
Sie blinzelte und versuchte festzustellen, wo sie war. U m risse schälten sich aus d e m blendenden W eiß, i m m er schneller, immer klarer.
Die Stim m e hatte sehr erl e ichtert erklungen. Sie wusste selbst n i c h t, weshalb sie sie n i cht gleich erkannt hatte, beinahe als wären Teile ihres Gedächtnisses … nein, nicht ausgelösc h t, aber ver s chüttet, so als m üssten sie erst wieder frei g eschaufelt w erden.
»Felix? Das sind Sie, oder ? «
»Ich bin hier«, sagte M a sken. »Keine Angst.«
Sie wandte den Kopf in seine Richtung, aber er saß vor dem Fenster, und der Himmel draußen war noch heller als der Rest de s Zim m er, sodass sie kaum m ehr als eine Silhouette aus m achen konnte, m it f l irrenden Rändern und der Körpe r lichkeit eines Scherensch n itts.
» W a s is t … «
»Passiert?« Er m achte eine kurze Pause. »Sie hatten einen Unfall. Sie und Herr T i berius. Einen Zusammenstoß m it einem a nderen Automobil.«
» W as ist m it Jako b ?«
»Jakob ? « Sie konnte hören, wie er missbilligend die Luft einsog. »Herr Tiberius ist unverletzt. Machen Sie sich keine Sorgen um ihn.«
In ihrem Gedächtnis erstand d as Bild des leeren
Fahrersitzes, das Blut an ihren F i ngern. Die offene Tür.
»Er … er war weg.«
» W eg? Nein, ich denke nicht. J e t z t i s t e r weg. Ich s o ll Sie von ihm grüßen.«
» W as m einen Sie m it ›jetzt‹?«
»Ich habe ihn gefeuert.«
E m pört wollte sie i h ren Oberkörper au f richten, aber es gelang ihr nur halb. » S ie können ihn nicht feuern. Er war m ein Lehrer!«
Seine Hand schob sich auf ihre, er beugte sich vor. Dabei drang er in den schar f en Be r eich i h res Blick f elds vor, und sie erkannte die aufrichtige Sorge in seinen Zügen. Er sah aus, als hätte er lange nicht geschlafen.
»Bitte, Chi a ra, r egen Sie sich nic h t au f . Sie si nd zwar gesund, aber noch erschöpft, kein Wunder … Und was Tiberius angeht: Ich habe i hn rausgeworfen, weil er Sie fast
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