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Das zweite Gesicht

Titel: Das zweite Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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gesehen hatte. Am liebsten wäre sie nach der Hälfte aus dem Kino gerannt, obwohl die Pre m ierengäste begeistert war e n. W e nigstens taten sie so.
    In diesen Tagen fiel es ihr immer schwerer, die Reaktionen anderer Menschen zu verstehen. Früher war sie gutgläubig, sogar vertrauensselig gewesen, und wenn je m and ihr ein Ko m pli m ent ge m acht hatte, da n n wäre sie nie darauf gekommen, dass er sie anlügen könnte. Heute war das anders. Mittle rw eile m achte jeder Kompli m ente, und sie spürte, wie W or t e des Lobes oder der Anerkennung m ehr und m ehr von ihr abprallten. Im gleichen Maß, in dem ihre Bekanntheit wuchs, sank ihr Vertrauen in andere.
    »Danke – das drehen wir noch m al«, rief der Regisseur zum Ufer herab. Die Generatoren verstum m ten, und zwei Frauen aus der Maske eilten herbei, um Chiara e i nen Bade m antel und Handtücher u m zulegen. Der Ka m era m ann rief, dass es ein paar Minuten d a u ern würde, er wolle di e Lichtv e r h ält n isse o p ti m i eren. W e nig später turnten Beleuchter und Bühnenarbeiter am Rand der  künstlichen Klippe herum und bef e stigten Scheinwerfer und Kabel oben auf der Kante.
    Chiara saß f rierend in ihrem Stuhl, trotz der Tücher und des Bade m a ntels, trotz des heißen Kaffees, d e n m an ihr reichte. S i e beobachtete das T reiben im Atelier, die Arbeiten an der Uferlinie vor dem ge m alten Halbrund des Stur m h i m mels und dachte, dass s i e auch bei i h rem dritten Film noch immer nicht ganz das Staunen verlernt hatte über den Aufwand an Technik, Menschen und Geld, der hier betrieben wurde.
    Ihr neue Schauspiellehrerin, eine ältliche Frau, die schon bei Reinhardt auf der Bühne gestanden hatte, verglich die Arbeit im Ateli e r g e rn m it e i nem Kinderspielplatz, nicht nur, weil hier die verr ü ckte s t en Abenteuer zusam m enf a ntasiert wurden, s ondern weil es hier wie dort vor allem um eines ging: W er a m lautesten brüllte, war der Bestimmer.
    Chiara läc h elte in s i ch hinein. Fasziniert, aber auch ein wenig besorgt beobachtete sie, wie die Beleuchter über den sch m alen Steg balancierte n , d er h i n t er d er K li p pe verborgen war. Sicherheits m aßnah m en gab es nur für die Schauspieler, die Arbeiter m ussten zusehen, wie sie zurec h tka m en. Ein Sturz aus f ünf Metern Hö h e m ochte ihnen alle Knochen brechen. Rasch wandte C hiara den Blick ab, als könnte sie allein durchs Hinsehen einen von ihnen in d i e Tiefe ziehe n .
    Schließlich waren die U m bauten beendet, und der Regisseur forderte s i e a u f, wieder ins W asser zu waten bis kurz vor den künstlichen Hor i zont. Laut Drehbuch hatte sie sich aus dem Schiff i hres Onkels gerettet, nachdem sie ihn kurz zuvor als Piraten ent l arvt hatte. Am Ufer würde sie einer Bande von Schmugglern in die Hände f allen und sich, nach einigem Hin und Her, in deren Anführer verlieben – in den »düsteren, geheimnisvollen« Anführer,
    denn gespielt wurde er von Torben Grapow. Nach dem beachtlichen Erfolg von Der Untergang des Hauses Usher waren die Produzenten be m üht, Chiara und ihn ge m eins a m in ihren Fil m en unterzubringen. D i e m eisten dieser Angebote, auf jeden Fall die bestbeza h lten, waren Sch m onzetten wie diese hier, har m los, unterhaltsam und gern gesehen in den große Kinopalästen.
    Das W asser war warm gewesen, als m an es in das Becken ge f üllt h a tte, do c h nach der f ün f ten W i ederholung der Szene hatte es s i ch e m pfindlich abgekühlt. Chiara fröstelte, b eschwerte s i ch aber ni cht – d as hätte die Prozedur nur noch weiter in die Länge gezogen.
    »Brandung!«, rief ein R egieassistent.
    Die Generatoren he u l ten auf. Die W assero b erfläche geriet in Bewegung, W ellen ka m en auf. Eine W i ndmaschine blies dröhnend über den Kiesstrand. Oben auf der Klippe klam m e rten sich die Beleuchter an ihren Scheinwerfern fest, die rec h t wacklig auf dem Steg standen.
    »K a m era!«, brüllte der Assistent.
    »K a m era läuft!«, antwortete einer der Ka m eraleute.
    »Chiara.« D er Regisseur benu t zte eine Flüstertüte, um über den zehn Meter breiten W asserstreifen zu ihr herüber zu rufen. »Und – bitte!«
    Sie tauchte unter, tauchte a u f – und schleppte sich durch das brusthohe W asser an Land. Laut Drehbuch war sie gerade zwei Kilo m eter weit geschwomm e n, vom Piratenschiff bis an die K ü ste Cornwalls, und das bei heftigem S t urm und i m D ä m m erlicht des Morgens. Dafür, fand sie, hielt sie sich ganz

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