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Das zweite Gesicht

Titel: Das zweite Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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großzügige Konditionen, hervorragende Gagen – wäre alle m al erwähnenswert gewesen.
    Sie le g t e ihn beis e ite, wollte a uf stehen, d a nn ab e r schaute s i e sich weiter u m . Da lagen andere Verträge, m i t
    anderen Produzenten, die m ei s ten waren älter, viele aus dem letzten Jahrzehnt. D azwischen belangloses Z eug, wie Rechnungen von Handwerkern, B ekleidungsgeschäften und sogar F rise u ren. Wer, um H i m m els willen, ließ sich vom Friseur eine Rechnung über einen Haarschnitt schreiben und, m ehr noch, w e r fand, dass es wichtig war, sie aufzuheben?
    Dann entdeckte sie etwa s , das sie s t utzig m achte.
    Vor einigen W ochen, kurz n ach i hr er Entl a ssu n g, hatte sie eine Rechnung über ihren Aufenthalt in der Privat k li n ik bekommen.
    Auch Torben hatte eine solche Rechnung.
    Das Schreiben stam m t e aus dem Nove m ber 1920, das war gut eindreiviertel Jahre her. »Notversorgung nach Unfall« stand darauf, darunter eine Liste von Leistungen in unverständlichen Kürzeln, die ihr nichts desto trotz bekannt vorka m en. Sie hätte wetten m ögen, dass es dieselben Buchstaben- und Zahlenko m binationen waren wie auf ihrer eigenen Rechnung.
    Hatte Torben die gleiche Behandlung bekom m en wie sie?
    Mit wac k li g en Beinen richtete sie si ch auf, zögerte k u rz, dann schob sie die Klinikre c hnung in ihre Manteltasche und ging langsam zurück ins Badezimmer.
    Torben lag unverändert da. Nur die Knie und ein Teil seines Oberkörpers ra gt en aus dem roten W asser. Das Bl u t hatte einen dichten Vorhang um d e n Rest seinen Körpers gewoben.
    Mit ausge s trecktem F i nger berührte s i e ihn an d e r Schläfe, widerwillig und vorsic h tig. Als er nicht reagierte, wiederholte sie die Bewegung, diesmal etwas heftiger.
    Was immer vorhin noch an L e ben in ihm gew e sen war,  jet z t war es f ort.
    Sie spürte, dass sie kurzat m ig wurde und ihr Herz wieder schneller schlug, aber das stellte keinen Hinderungsgrund dar. Sie schob den rechten Är m el z urück und tauchte die Finger in d a s dic h te Rot über sein e m Unterl e i b . Erst j e t z t fiel ihr auf, wie sehr es im ganzen Raum nach Eisen roch. Das W asser war kalt geworden, und sie sah, wie eine Gänsehaut auf ihrem H a ndrücken und Unterarm erschien. Mit ein paar raschen B ewegungen rührte sie im W asser, versuchte, die roten Schlieren beiseite zu wedeln, doch das klappte nicht. Zu viel B l ut h a tte s i c h ber e its zu sehr m it dem Badewasser ver m i scht. Um einen Blick auf seinen Bauch zu werfen, m uss t e sie anders vorgehen.
    Aber noch zögerte sie, den Leichnam aus d e m Wasser zu heben.
    Stattdessen schob sie die Hand jetzt tiefer hinein, schloss die Augen, spürte, wie die Kälte an i h rem Arm e m porkroch und sich in ihrem Körp e r breit m achte.
    Ihre Fingerspitzen berührten seine Bauchdecke, das kalte, leblos aufquellende Fleisch. Ihr Zeigefinger fand die Vertiefung seines Bauchnabels. Sie ertastete sein Scha m haar – zu weit. W i eder ein Stück zur üc k, alles b li n d im blutroten W asser. Übelkeit stieg in ihr auf und wider besseren W i ssens d i e Angst, er könnte noch leben, plötzlich nach ihr greifen, ihre Schultern, ihr Haar pac k en, sie m it dem Gesicht ins kalte W asser pres s en …
    Da war es. Das m usste es sein.
    Ein kaum merklicher, längs verlaufender Hautwulst. Die Narbe.
    Sie zog die Hand zurück, als hätte ihr etwas einen elektri s chen Schlag versetzte. Alles in i h r schrie danach, aufzuspringen und fortzulau f en. Aber erst musste sie sicher sein. Ganz sicher.

Es hätte die Narbe einer Blinddar m operation sein können. Aber so weit in der Mitte?
    Sie s t r e i f te ihren M ant e l ab und legte ihn beiseite, da m i t er keine W asserflec k en beka m . Sie riss ein Han d tuch vom Halter, rollte es zusa mm en und legte es dem Toten unters Kinn. Dann trat sie hinter ihn, packte die beiden Enden und versuchte, ihn damit ein Stück aus dem Wasser zu ziehen, ohne den Körper noch ein m al zu berühren.
    Im ersten Mo m ent sah es aus, als würde es funktionieren. Alles, was sie b ra u chte, war ein kurzer Blick, der Beweis, dass sie R echt h a tte m it ihr e r Ver m utung. Seine Brust wur d e sichtbar, die Behaarung oberhalb d e s Solar p le x us. W asser perlte rot zu beiden Seiten seines Körpers herab, tröpfelte in die W anne.
    Dann aber kippte sein Kopf nach hinten, das Handtuch rutschte unterm Kinn ab, wischte über sein Gesicht hinweg, und der Leichnam glitt lautlos z u rück unter

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