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Das zweite Gesicht

Titel: Das zweite Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Vielleicht nur eine Täuschung. Und wenn es nur der Hall ihrer eigenen Schritte w ar ? W as, ver f lucht, kümmerte es sie e i gentlic h ? W arum sollte nic h t je m and die Tre p pe heru n t erkom m en? Sie war immerhin in ein e m Haus m it fünf Wohnungen.
    Aber wer lief i m Dunkeln die Stufen herab? Und war u m antwort e te e r nic h t auf ihre Ru f e?
    Weil du nach Torben gerufen hast, nach nie m and e m sonst. Geh weiter.
    Sie erreic ht e die vierte Etage. Noch eine, dann war sie oben. Hatte Torben ihr Klingeln nicht gehört?
    Plötzlich hatte sie das Gefühl, je m and wäre an ihr vorbei gehuscht. Ein schwacher Luftzug, dazu der Geruch eines anderen Menschen.
    Jet z t war es f ort.
    Sie war ganz sicher. Je m and war von oben an ihr vorbei geschlichen, an der Wand entlang. Sie fröstelte, ihr Herzschlag erfüllte sie bis zum Bersten. In i h rem Hals hing ein erstarrter Angstlaut fest wie etwas, das versehe n tli c h in ihre Lu ft röhre geraten war. Einen Augenblick lang bekam sie keine Luft m e hr, m usste stehen b l ei b en, sich b e ruhigen. Tief durchat m en.
    Sie horchte, hörte aber nur ihren Pulsschlag in den  Ohren und das Zischen ihres Ate m s.
    Sie hatte sich das nicht eingebildet. Das nicht.
    Je m and war da gewesen – und er war es immer noch oder bereits auf d e m W e g nach unten.
    Sie fasste sich ein Herz und rannte los. Stür m t e die letzten Stu f en zum fünften Stock hinauf und be m erkte, noch bevor sie den oberen Abs a tz erreichte, den Geruch von verbranntem Fleisch.
    Die W ohnungstür stand offen. Dahinter war es kaum heller als im Treppenhaus.
    »Torben ? « W ar das wirklich ihre Stimme, dieses klägliche Piepse n ?
    »Torben, verdam m t no c h m al!«
    Noch im m e r verharrte sie vor der T ür, unsicher, ob sie  hineinge h en sollte. Einen Vorteil hatte es, und das gab den Ausschlag: Sie konnte die Tür von innen verschließen, und egal, was sie dort drinnen erwarten m ochte, derjenige, der m it ihr im Treppenhaus war, blieb außen vor.
    Sie tat ei ne n Schritt hinein, tastete gar nicht e rst nach dem Lichtschalter, so n dern schlug sofort die Tür hinter sich zu. Das Krachen hallte durch das Treppenhaus, zurückgeworfen von kaltem Stein. Eine Sekunde lang glaubte sie, draußen noch etwas anderes zu hören, ein unterdrücktes Flüstern, einen Fluch vielleicht.
    W as immer es war, es w ar draußen. Und sie war drinnen. In Sicherheit, zu m i ndest für den Augenblick.
    Sie stand in einem Halbrund, von dem m ehrere Stufen in ein weitläufiges W ohn z im m er führten. Überall wuchsen hohe Pflanzen in großen Kübeln. Tuschezeichnungen hingen gerah m t an den W änden, soweit sie erkennen konnte alle in Schwarzweiß, k e ine farbigen Ge m älde oder Aquarelle. Sie hatte Torben als je m anden eingeschätzt, der seine Zimmer m it den Plakaten seiner Fil m e tapezierte, doch sie e n tdeckte kein einzi g es. Möglicherweise in einem der anderen Räu m e. Drei große Fenster reichten vom Boden bis zur Decke, eines war zugleich eine T ür, die auf einen breiten Balkon führt e . Dahinter, jenseits des Geländers, sah sie das Lichter m eer der nächtlichen Stadt. Es war d i e einzi g e Lichtquelle u n d erfüllte d en riesi g en Raum m it einem sanften Glühen.
    Vor der W o hnungstür war es jetzt still. Hatte sie sich das  Flüstern nur eingebildet?
    Der Flei s c h geruch d ra n g aus einer Tür am anderen Ende des W ohnz i mmers. Auch dort brannte kein Licht. Die Küche vermutete sie, denn diese Tür lag dem Esstisch am nächsten.
    Der Boden war weiß gefliest, aber nach einem Mo m ent  fiel ihr auf, dass nicht alle hellen Vierecke am Boden Steinplatten waren. Die m eist e n waren aus Papier. Je m and hatte die Schubladen der groß e n Kommode an der rechten Wand aufg e zerrt und den Inhalt auf d e m Bod e n verteilt. Torben schien kein Freund von Ordnern zu sein, denn was dort lag, sah aus wie der gesa m t e P a pierkra m , d e r sich im Lauf m ehrerer Jahre angesa mm elt hatte: Verträge, Rechnungen, auch Briefe von Ve r ehrerinnen oder Gott weiß w e m .
    Sie erscha u erte. I h r Herzschlag hatte sich noch i m m er nicht beruhigt, und die Tatsache, dass sie ihn hören konnte  – nicht als Pulsieren in den Ohren, sondern als du m pfe, feste Schlä g e in ihrer Brust – m a chte ihr beinahe m ehr Angst als das, was sich vor der Wohnungstür befinden mochte.
    »Torben? Bist du hier irgendwo ? «
    Sie besc h l o ss, dem G e ruch des verbrannten Fleischs nachzugehen. Der Esstisch war

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