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Das zweite Gesicht

Titel: Das zweite Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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anderthalb Jahre zuvor Torben gelegen hatte.
    Sie habe eine Schnittwunde am Bauch gehabt, hatte der Arzt gesagt, und eine Ver l etzung am Dünnd a r m . Beides habe m an genäht. Das war alles. Torben hatte m an ver m utlich d as Gleic h e e rzählt.
    Aber waru m ? W as hatte m an wirklich mit ihnen angestellt?
    Mehr m als in diesen drei Tagen zog sie sich aus und stellte sich vor den Spiegel, betrachtete sich von vorne, von der Seite, von ganz nah und aus ein paar Schritten Entfernung. Die Narbe war kaum z u sehen, aber im m er, wenn sie sie berührte, kehrte die Erinnerung an Torbens Leiche zurück; dann spürte sie wieder die Kälte und den weichen W u lst unter ihren Fingers pi t ze n , g li t sc h i g w i e e i n Regenwu r m von den Stunden im W a sser.
    Sie kam zu keinem Ergebnis. Sie fühlte sich nicht anders als zuvor, hatte keinerlei Beschwerden. Sie m a s sierte die Stelle, aber auch von der inneren Verletzung war nichts m ehr zu spüren. Es war, als wäre nichts geschehen – wäre da nicht die Narbe gewesen, d i e et w as anderes sagte. Und die beiden gleich lautenden Rechnungen.
    Im Grunde war es einfach. Sie m usste nur in die Klinik gehen und den Arzt fragen. Doch gerade das war un m öglich: D a m it hätte sie zugegeben, dass sie Torbens Rechnung gesehen hatte. Vielleicht konnte sie behaupten, Torben habe ihr davon erzählt. Aber selbst das konnte Verdacht erregen, denn er hatte ihres W i ssens nie darüber gesprochen, und auch die Presse hatte über den Unfall nichts berichtet – genau wie über ihren eigenen, denn  Masken hatte dafür gesorgt, dass nichts an die Öffentlichkeit drang. A u ßer Ursi wusste nie m and davon, nicht einmal Her m ann – das hatte Ursi Masken versprechen m üssen, bevor er s i e vor g ela s sen hatte. Plötzlich war sie sicher, dass er bei Torben genauso vorgegangen war. Die gleichen R atschläge, die gleiche strenge Gehei m haltung. Schlecht für dein I m age, hatte er gesagt, und überhaupt, wen geht es etwas an?
    Zwei Unfälle. Zwei identische Behandlungen. Und zwei m al war alles t o tge s chwiegen worden.
    Der Schlüssel des Ganzen lag bei Masken, daran hatte sie kei n en Zweifel. Aber sie w o llte ihn nicht da m i t konfrontieren. Konnte es nicht. Im Augenblick wollte s i e ihn weder sehen noch hören, zu m al ihr auch ihre Halluzinationen – oder Erlebnisse? – in d e m seltsa m en Lokal noch immer zu schaffen machten.
    Noch eine Frage m usste sie s i ch stellen: Hatte sie Angst vor Masken?
    Sie fand keine Antwort darau f . Angst war i h r in let z t e r Zeit sehr fre m d g e worden, sie fühlte sich m it jedem Tag selbstsicherer, spürte, dass eine Wandlung eingesetzt hatte. Die alte Chiara, jene, die nach Berlin gekomm e n war, hätte die Sache in Torbens W ohnung nicht durchgestanden; sie hätte d i e Polizei gerufen und alles weitere auf sich zukommen lassen.
    Die heutige Chiara, nur wenige Monate älter, war anders. Kühler, kalkulierender. Sie hatte s i ch all e s, was sie besaß – ihren Ruf, ihren Erfolg, sogar diese W o hnung – hart erarbeitet. Nichts davon würde sie sich neh m en lassen.
    Nicht von einem Toten. Nicht von Masken.
     
     
    *
    »Hast du noch m al was von diesem … wie war sein N a m e? … diesem Jakob gehört?« U rsi schob m it spitzen Fingern das Papierbäu m chen in ihrem Cocktailglas beiseite, trank einen Schluck und schauderte, als ein kalter Wassertrop f en vom Fuß des Gla s es in ihre Dekollete fiel.
    Chiara schüttelte den Kopf. »Ni c hts. Er ist wie vom  Erdboden verschluckt.«
    »Hast du’s denn versucht ? «
    »Ihn zu finden? In den ersten T agen nach der Entlassung aus der Klinik. Seitdem nicht m ehr. Er hätte sich m elden können, wenn er gewollt hätte.«
    »Und trotzdem wartest du auf ihn ? «
    Chiara le g t e e m pört die Stirn in Falten. » W ie meinst du das ? «
    »Seit die s er Sache hast du m it keinem Mann mehr was gehabt.«
    »Erstens: Ich hatte nichts m it Jakob …«
    Ursi lächelte m it großen A ugen, und ihre Lippen fo r m ten stum m : Ja, ja, natürlich.
    »… zweitens: Ich hab genug anderes zu tun, als zu …«
    »Vögeln ? «
    »Ja, Ursi«, sagte sie gedehnt, »so könnte m an es wohl nennen.«
    Ursi kicherte und trank ihr Glas leer. Sie saßen an einem Tisch in Betty Sterns Salon, ei n em der ge s ellschaftlichen Zentren der Berliner Kultur. Betty Stern war eine kleine, rundliche Person, nicht ar m , aber auch nicht halb so wohlhabend wie viele ihrer Gäs t e. Sie hatte es sich z u r Aufgabe

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