Das zweite Königreich
Norweger, unter ihnen auch der legendäre König Harald Hårderåde. Nurwenige Schritte von ihm entfernt lag sein glückloser englischer Gefolgsmann Tostig Godwinson.
Dunstan hatte seine Bluttaufe fast ohne einen Kratzer überstanden. Er war erschüttert gewesen, als er Zeuge des grauenhaften Gemetzels wurde, doch er hatte tapfer gekämpft, und sobald er sich davon überzeugt hatte, daß auch sein Vater und die meisten der Männer aus Helmsby und Metcombe unversehrt waren, brach er mit einer Schar von vielleicht zweihundert Mann unter dem Kommando des Earl of East Anglia auf, um das erbärmliche Häuflein überlebender Norweger zur Küste zu jagen.
Als sie nach York zurückkehrten, wohin der König gezogen war, um seine Truppen auszuruhen, war es wiederum Dunstan, der ihm Bericht erstattete.
»Sie merkten bald, daß wir hinter ihnen her waren, und gerieten in Panik, Mylord. Ihr hättet sie sehen sollen, all die stolzen Wikinger. Sie sind gerannt wie die Hasen!«
Harold Godwinson lächelte grimmig. Es galt keineswegs als ehrlos, einen fliehenden Feind zu verfolgen und niederzumachen, es war nur vernünftig. Denn wer heute floh, konnte morgen mit Verstärkung wiederkommen. »Und hast du den gefunden, der dir so am Herzen lag, Dunstan?«
Dunstan schüttelte den Kopf. »Leider nicht, mein König.« Er hatte Erik weder während der Schlacht noch bei der Verfolgung der Norweger gesehen. »Ich hätte Euch liebend gern den Kopf des Mannes gebracht, der Euren Bruder zum Verrat angestiftet hat, es hätte unseren Sieg noch vollkommener gemacht. Aber wenn er in England ist, werde ich ihn schon noch finden. Die Norweger flohen jedenfalls nach Riccall am Ouse, wo ihre Schiffe lagen. Vierundzwanzig konnten sie noch bemannen, Mylord. Nur vierundzwanzig. Von dreihundert. Sie ruderten mit der Strömung den Ouse und den Humber hinab, und wir verfolgten sie bis zur Küste. Sie segelten Richtung Heimat davon, und es wird ein schwarzer Tag in Norwegen sein, wenn sie dort ankommen.«
Harolds Kopf ruckte hoch. Er umklammerte die Lehnen seines thronartigen Sessels, bis die Knöchel schneeweiß waren, und fragte: »Sie segelten nach Norden davon?«
Dunstan nickte grinsend und öffnete den Mund, doch als er den Ausdruck des Entsetzens im Gesicht seines Königs sah, blieben ihm dieWorte im Halse stecken. »Aber, Mylord, was …« Dann erst ging ihm die Bedeutung seiner Worte auf, und einen furchtbaren Moment lang glaubte Dunstan, die Kontrolle über seine Blase zu verlieren. Dann sank er wieder vor dem König auf die Knie. »Vergebt mir, Mylord, es scheint mein Schicksal zu sein, Euch schlechte Nachrichten zu bringen. Aber es ist, wie ich sagte. Sie segelten nach Norden. Heiliger Oswald, steh uns bei. Der Wind hat gedreht.«
St. Valéry, September 1066
»Gott sei gepriesen, der Wind hat gedreht!«
Nicht nur die Seeleute, die den Umschwung als erste bemerkt hatten und freudig verkündeten, dankten der Vorsehung, sondern auch jeder Adlige im Gefolge des Herzogs. William der Bastard wurde für viele Tugenden gerühmt, aber Geduld zählte nicht dazu. Beinah drei Monate lang hatten die widrigen Windverhältnisse ihn und seine Flotte an der heimischen Küste festgehalten, bis er schließlich so verdrossen war, daß selbst fitz Osbern und die übrigen hohen Adligen am liebsten einen Bogen um ihn machten.
Etienne betrat eilig das Zelt, das ihn und die anderen jungen Männer im Gefolge des Herzogs beherbergte, seit sie die Flotte vor zwei Wochen von der Divesmündung hierher verlegt hatten.
»Packt euer Zeug zusammen, wir segeln in zwei Stunden.« Selbst dem sonst so unerschütterlichen Etienne gelang es nicht, seine Erregung zu verbergen.
Roland, Philip, Roger und Lucien sprangen auf und redeten wild durcheinander.
Etienne trat zu Cædmon, der nach wie vor auf seinem Schemel an dem wackeligen Tisch saß, der ihnen seit Wochen für die Mahlzeiten ebenso diente wie für Würfel- und Mühlespiele, und leise die Saiten seiner Laute zupfte. »Hast du nicht gehört, Cædmon? Wir brechen auf! Endlich bläst der Wind aus Süden.«
Cædmon nickte. »Natürlich habe ich dich gehört. Du brüllst schließlich laut genug.«
Etienne klopfte ihm lachend die Schulter. »Du und ich haben die Ehre, auf der Mora zu segeln.«
»Und was ist mit uns?« fragte Roland, der dabei war, seine wenigen Habseligkeiten in seine Decke einzurollen.
Etienne schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Am besten fragst du deinen Vater, er ist für die Bemannung der
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