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Das zweite Königreich

Das zweite Königreich

Titel: Das zweite Königreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Gablé
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nieder, was sich ihnen in den Weg stellte. Einer von Harolds Bannerträgern schlug einem der Ritter den Schildarm ab, ehe er selbst fiel. Schließlich stand Harold allein. Das Schwert in der rechten, die Axt in der linken Faust, so trat er ihnen entgegen, doch einer der Normannen gab seinem gewaltigen Schlachtroß die Sporen und ritt Harold Godwinson nieder. Dann saßen sie ab, bildeten einen engen Kreis um den König von England und hoben gleichzeitig die Schwerter.
    Und das war das Ende.
    Die Engländer, die sich noch auf den Beinen halten konnten, wandten sich ab, warfen ihre Waffen von sich und flohen in die Dunkelheit. Fitz Osbern gab Befehl, die Fliehenden zu verfolgen und jeden niederzumachen, den sie erwischten.
     
    Derweil brachte Herzog William den Mann vor sich im Sattel vom Schlachtfeld, der bei der Niederwerfung des Usurpators den halben Schildarm eingebüßt hatte. Er ritt zu einem der wenigen Zelte, die in dem notdürftigen Lager am Rand des Schlachtfelds errichtet worden waren.
    »Lauft, Cædmon, holt einen Feldscher.«
    »Ja, Monseigneur.«
    »Nein, wartet. Jemand anders soll gehen. Ihr versorgt ihn, bis der Arzt gefunden ist. Verflucht, werdet ihr mir wohl diesen Mann abnehmen, ehe er verblutet ist?«
    Ein paar Soldaten sprangen erschrocken herbei und nahmen den Verwundeten vorsichtig in Empfang, als der Herzog ihn vom Pferd gleiten ließ. Der Schein einer nahen Fackel fiel auf das bleiche, reglose Gesicht. Es war Lucien de Ponthieu.
    Cædmon hatte eine Hand vor den Mund gepreßt und starrte auf ihn hinab.
    William saß ab und versetzte ihm einen unsanften Stoß. »Worauf wartet Ihr, Junge, verbindet ihn, na los! Ich will nicht, daß er stirbt.«
    Cædmon nickte, ließ die Hand sinken und wandte den Blick von Luciens blut- und dreckverschmiertem Gesicht ab, damit er nachdenken konnte. »Bringt ihn hinein«, wies er die Soldaten an. »Und besorgt mir einen Strick. Schnell. Wir müssen den Arm abbinden …«
     
    Cædmon wünschte in dieser Nacht viele Male, er hätte früher größeres Interesse an der Kunst seiner Mutter gezeigt und aufmerksamer zugehört, wenn sie ihm etwas beizubringen versuchte. So aber mußte er ungezählte Male tatenlos zusehen, wie ein Mann starb, weil er nicht wußte, was er hätte tun können. Er ging den wenigen Feldschern zur Hand, wo er nur konnte, und kam bald zu der Erkenntnis, daß das Grauen der Nacht das Grauen des Tages überstieg. Auch im Lazarettzelt floß das Blut in Strömen, aus Stich- und Schnittwunden an Köpfen, Gliedern und Leibern, vor allem jedoch aus Stümpfen. Dutzenden von Stümpfen. Sie alle mußten ausgebrannt werden, ehe sie mit Pech verschmiert und verbunden wurden, und bald war der Gestank nach verbranntem Fleisch so übermächtig, daß Cædmon ständig ins Freie flüchten mußte, um zu würgen und Galle zu spucken und dann ein paarmal tief durchzuatmen, ehe er den Mut fand, an diesen Ort des Schreckens zurückzukehren.
    Und die ganze Zeit war er in Gedanken draußen auf dem nächtlichen Schlachtfeld, bei all den verwundeten, stöhnenden und schreienden Engländern, um die sich niemand kümmerte, weder Wundarzt noch Priester.
    Als der Tag anbrach, verließ er das Lazarettzelt und machte sich auf die Suche nach einem Offizier, den er um Erlaubnis bitten konnte, zwischen den Toten und Verletzten auf dem Feld nach vertrauten Gesichtern suchen zu dürfen. Doch er hatte kaum zehn Schritte im ersten zartrosa Licht des kalten, klaren Herbstmorgens zurückgelegt, als Bischof Odo auf ihn zutrat.
    »Kommt, mein Sohn.«
    »Wohin?«
    »Kommt.«
    »Aber …«
    Odo schüttelte den Kopf, legte ihm die Hand auf die Schulter und brachte ihn zu einem abgelegenen Zelt am Rand des Lagers. Cædmonsah den normannischen Bischof mit bangen Augen an, aber Odo nickte nur Richtung Zelteingang. Als Cædmon sich abwandte, sagte er hinter ihm:
    »Ich bin hier draußen. Falls Ihr mich braucht.«
    Cædmon mußte sich zwingen, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Mit einem fast unmerklichen Hinken betrat er das Zelt.
    Nur zwei Fackeln erhellten das Innere, es herrschte diffuses Halbdunkel. Cædmon sah reglose, schemenhafte Gestalten aufgereiht am Boden liegen. Langsam schritt er den Mittelgang hinab, und er erkannte seinen Vater sofort.
    Er kniete sich neben ihn auf die kalte Erde und legte die Linke auf die gefalteten Hände. Sie fühlten sich warm an.
    Ælfric schlug die Augen auf. »Cædmon?«
    »Ja, Vater.«
    Ælfric sah blinzelnd zu ihm auf. Seine Augen waren trüb. Eine

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