Das zweite Königreich
Ich habe England erobert. Jetzt will ich Eure Antwort.«
»Nein.«
William atmete tief durch und sah einen Moment auf Ælfric hinab. »Ein gutes Gesicht«, murmelte er.
»Ein guter Mann«, erwiderte Cædmon schneidend.
»O ja, ich weiß. Und ich kann Euren Schmerz nachfühlen. Wißt Ihr, ich war acht Jahre alt, als mein Vater starb. So etwas vergißt man nicht.«
»Aber sicher wäre Euch nie in den Sinn gekommen, in den Dienst des Mannes zu treten, der Euren Vater auf dem Gewissen hatte.«
William runzelte gefährlich die Stirn. »Ihr solltet Euch ein bißchen in acht nehmen, Cædmon of Helmsby«, riet er leise. »Ich bin nicht verantwortlich für den Tod Eures Vaters, sondern nur er selbst. Er hat seine Wahl getroffen, hat sich auf die Seite des Eidbrechers gestellt, und ich bin sicher, er kannte sein Risiko. Genau wie er habt Ihr die Wahl. Überlegt gut, ob Ihr seinen Fehler wiederholen wollt.«
Cædmon antwortete nicht gleich. Er sah auf seinen Vater hinab. »Aber ich bin Engländer !«
»Ihr seid zur Hälfte Normanne.«
»Nicht in meinem Herzen.«
»Doch. Ich bin sicher. Ihr wißt es nur noch nicht. Aber wie dem auchsei. Wenn Ihr Engländer seid, dann helft England. Helft England, indem Ihr mir helft. Seht den Dingen ins Auge, die Engländer sind ein besiegtes Volk. Schwere Zeiten kommen auf sie zu. Wenn Ihr Euch ihnen verbunden fühlt, dann werdet ihr Fürsprecher vor ihren Bezwingern.«
»Ich kann mir keine undankbarere Aufgabe vorstellen«, erwiderte Cædmon.
»Was sonst wollt Ihr tun?«
»Meinen Vater nach Hause bringen. Mich um meine Mutter und meine Geschwister kümmern. Und um Helmsby.«
Der Herzog schüttelte langsam den Kopf. »Helmsby gehört Euch nicht mehr, Cædmon. Jeder englische Edelmann, der bei Hastings Waffen gegen mich geführt hat, hat sein Land verwirkt …«
»Aber …«
»… es sei denn, er erwirkt meinen Pardon. Er oder sein Erbe. Euer Vater ist gefallen, Euer Bruder auch, wie Ihr sagt. Also liegt es an Euch, meinen Pardon zu erwirken. Ihr könnt Euch sicher vorstellen, unter welchen Umständen ich bereit wäre, ihn zu gewähren.«
Cædmon sah ihn ungläubig an. »Das ist Erpressung.«
»Stimmt.«
»Ein erpreßter Eid ist nicht bindend.«
»Ich verlange keinen Eid. Ich verlange nur, daß Ihr zurückkommt, sobald Ihr Euren Vater und Bruder begraben und Eure Angelegenheiten in Helmsby geregelt habt. Den Eid könnt Ihr mir leisten, wenn Ihr Euch aus freien Stücken dazu entschließt.«
Cædmon zögerte nicht. »Einverstanden.« Er wußte, daß ihm nichts anderes übrigblieb.
Der Herzog zeigte ein schwaches, sehr erschöpftes Lächeln. »Sagen wir, ein Monat?«
»Zwei.«
»Meinetwegen. Am zweiten Adventssonntag erwarte ich Euch zurück. Wo immer ich dann sein werde, werdet Ihr zu mir stoßen.«
Cædmon nickte und verneigte sich knapp.
Helmsby, Oktober 1066
Das Wetter war umgeschlagen. Es regnete beinah ohne Unterlaß während Cædmons Heimweg, und ein eisiger Wind zerrte an seinem Mantel. Er kam nur langsam voran, denn hatte der Stallmeister ihm auf Befehl des Herzogs auch eines der großen, kostbaren normannischen Schlachtrösser zugeteilt, hielt der Karren mit dem Sarg ihn dennoch auf.
Er brachte nur einen Sarg nach Hause. Obwohl er einen ganzen Tag damit zugebracht hatte, das Schlachtfeld abzusuchen, und seinen Hort an schauderhaften Erinnerungen um eine Unzahl grauenvoller Bilder bereichert hatte, hatte er Dunstan nicht finden können.
Am Mittag des dritten Tages ritt er schließlich durch den Torbogen der Hecke in den Hof ein. Die Halle und die kleinen Wirtschaftsgebäude schienen sich unter dem bleigrauen Wolkenhimmel zu ducken, Sturzbäche rannen plätschernd von den strohgedeckten Dächern. Cædmon saß ab und sah sich um. Keine Menschenseele war zu entdecken, es war geradezu unheimlich still, und einen schrecklichen Moment lang fürchtete er, Helmsby sei verlassen. Doch dann öffnete sich die Tür des Vorratshauses, und ein schlaksiger, blondgelockter Junge trat hinaus in den Regen.
»Dunstan?«
»O mein Gott, Eadwig! Wie groß du geworden bist!« Er trat zu ihm und schlug die Kapuze zurück. »Eadwig, ich bin’s.«
»Cædmon!«
Sein jüngster Bruder fiel ihm um den Hals. Cædmon mußte sich kaum bücken, um ihn zu umarmen. Eadwig war zehn, rief er sich ins Gedächtnis, und nur noch einen guten Kopf kleiner als er selbst. Er fühlte sich dürr und knochig an, aber die Arme, die Cædmon um seinen Hals spürte, waren kräftig, die Hände in seinem
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