Das zweite Königreich
Ponthieu.
»Setz den Helm auf, Etienne«, mahnte Roland Baynard ruhig. »Ob bergan oder bergab, auf jeden Fall haben die Engländer die Sonne im Gesicht.«
»Vorläufig«, brummte Etienne. »Aber was wird heute nachmittag?« Lucien lachte höhnisch. »Was glaubst du, wie lange es dauert, einen Haufen englischer Schweinehirten zu besiegen? Noch dazu einen müden Haufen …«
»Der gerade Harald Hårderåde, den gefürchtetsten Heerführer aller Zeiten, vernichtend geschlagen hat«, gab Etienne zu bedenken.
Cædmon lauschte ihnen schweigend und fragte sich, ob er den Nachmittag noch erleben würde, wenn er bei seinem Vorsatz blieb und sein Schwert in der Scheide ließ.
Herzog William ritt ein paar Längen vor, wendete sein Pferd und hob gebieterisch die Hand. Das leise Waffenklirren und Stimmengewirr verebbte, selbst die Pferde schienen stillzustehen.
»Vor uns steht der Thronräuber mit einem großen Heer. Hinter uns liegt das Meer, wo feindliche Schiffe lauern. Es gibt kein Zurück für uns, der einzige Weg führt nach vorn!« rief er mit tragender Stimme. »Laßt euch von der Zahl der Gegner nicht entmutigen! Kämpft frohen Mutes und reinen Herzens, denn vergeßt nicht, das Recht ist auf unserer Seite! Gott ist auf unserer Seite!« Und mit diesen Worten hob er das Reliquiar hoch, das er um den Hals trug und das die Reliquien enthielt,auf die Harold den gebrochenen Eid geleistet hatte, und im selben Moment entrollte der Bannerträger die päpstliche Standarte. Die Truppen jubelten ohrenbetäubend. Die Morgensonne funkelte auf Kettenhemd und Helm des Herzogs, und Cædmon spürte, wie selbst ihm das Herz in der Brust vor Stolz und Ehrfurcht anschwoll, denn William erschien ihm plötzlich wie der wiedererstandene Roland: schön und schrecklich und unbezwingbar.
Und das war der Moment, da über dem Kamm des nächsten Hügels die englischen Banner erschienen.
Auch die Engländer traten in dreigeteilter Schlachtaufstellung an, auch sie hatten die stärksten Verbände in der Mitte gebündelt: Harold Godwinson, seine Brüder Gyrth und Leofwine und tausend seiner Housecarls. Insgesamt zählte das englische Heer etwa achttausend Mann, hatten die Kundschafter berichtet, doch nur ihre Anführer waren beritten. »Jetzt bleibt bloß abzuwarten, wer als erster die Geduld verliert und seinen Hügel aufgibt«, murmelte der Bischof von Bayeux und lockerte das Schwert in der Scheide.
»Ich kann nicht verlieren, was ich nicht besitze«, erwiderte William und gab das Signal zum Angriff.
Hörner erschollen auf beiden Seiten. Dann setzte das normannische Heer sich hügelabwärts in Bewegung. Vor ihnen erstreckte sich eine grasbewachsene Ebene, auf der ein einsamer Apfelbaum stand. Die Engländer rührten sich nicht. William ließ seine vorderen Linien, die Armbrust- und Bogenschützen, bis auf hundert Schritt Entfernung vorrücken, ehe er den Schußbefehl gab.
Die normannischen Pfeile prallten von den englischen Schilden ab, die eine dichte Mauer bildeten, ohne den geringsten Schaden anzurichten, und sie wurden nicht erwidert.
»Warum schießen sie nicht?« murmelte William. Nichts rührte sich auf englischer Seite, nichts war zu sehen bis auf den dichten Schildwall, es war geradezu unheimlich.
William wandte sich an Cædmon, der dicht neben seinem Bannerträger stand. »Sagt mir, warum sie nicht schießen.«
»Sie haben keine Bogenschützen, Monseigneur.«
» Was? Welch eine Unsitte ist das nun wieder? Kämpft das englische Heer immer ohne Bogenschützen?«
Cædmon schüttelte den Kopf. »Es ist unterschiedlich. Vermutlich sind viele Bogenschützen bei Stamford Bridge gefallen.«
»Das fängt ja gut an«, grollte der Herzog leise. »Wenn sie nicht zurückschießen, heißt es, daß keine Pfeile herüberkommen, die unsere Männer aufsammeln können. Unsere Schützen werden in Windeseile mit leeren Köchern dastehen …« Er dachte einen Moment nach, dann wies er auf Etienne. »Nehmt fünfzig Mann und reitet zurück zum Hafen. Holt an Pfeilen, was Ihr tragen könnt.«
Etienne war so entsetzt, daß er seine Manieren vergaß. »Aber Monseigneur …«
»Tut, was ich sage, oder nehmt den Helm ab, damit ich Euch den Kopf abschlagen kann!« herrschte William ihn an.
Etienne nickte knapp, wendete sein Pferd und galoppierte zu den hinteren Linien.
William hob die Hand, und ein Hornsignal gab den Befehl zum Vormarsch. Die Fußsoldaten der Hauptstreitmacht rückten auf ganzer Linie vor, pflügten langsam, aber unaufhaltsam bergan,
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