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Das zweite Königreich

Das zweite Königreich

Titel: Das zweite Königreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Gablé
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häßliche, gezackte Wunde verlief diagonal über seine Wange. Cædmon wollte die Decke anheben, um den übrigen Schaden in Augenschein zu nehmen, aber Ælfric schüttelte den Kopf.
    »Nein. Ich will nicht, daß du es siehst. Sorg dafür, daß sie meinen Sarg verschließen. Laß nicht zu, daß deine Mutter mich so sieht.«
    Cædmon nickte. »Sei unbesorgt.«
    Ælfric erschauerte, und für einen Moment verzerrte sich sein Gesicht. Seine Hände wurden klamm.
    »Willst du einen Priester?« fragte Cædmon leise. Er konnte kaum glauben, wie ruhig seine Stimme klang.
    »Nein. Ich habe gebeichtet, bevor wir in die Schlacht zogen, und seither … nichts getan, das ich bereue. Mit Gott bin ich im reinen. Aber mit dir nicht. Kannst du mir vergeben, Cædmon?«
    »Das habe ich längst.«
    Ein schwaches Lächeln zeigte sich auf dem grauen Gesicht. »Dann ist es gut. Dann ist … alles gut.« Er schloß die Augen, und Cædmon wartete. Aber Ælfric war noch nicht ganz fertig.
    »Tot, Cædmon. Alle Godwinsons. Gyrth, Leofwine, König Harold.« »Nur Wulfnoth nicht.«
    »Nein. Aber England. England liegt im Dreck und wird nie wieder aufstehen. Es ist bei Hastings gefallen. So wie ich.«
    Nicht die Könige sind England, nicht die Godwinsons, nicht einmal du, dachte Cædmon. Aber das sagte er nicht.
    »Cædmon …«
    »Ja?«
    »Kümmere dich um deine Mutter und um Eadwig. Such deine Schwester und vergewissere dich, daß es ihr gutgeht. Tu was du kannst für die Leute in Helmsby. Sie verlassen sich auf uns. Und du bist jetzt der einzige.«
    Cædmon spürte, wie eine eisige Hand sein Herz umklammerte. »Was ist mit Dunstan?«
    »Einer der ersten Pfeile hat ihn getroffen. Er stand gleich neben mir. Traf ihn … in den Hals. Mein armer Sohn … So viel Blut …« Es war nur noch ein schwaches Flüstern, dann versiegte auch das. Die blutunterlaufenen Augen fielen zu, zwei Tränen quollen unter den Lidern hervor. Mit einem leisen Stöhnen atmete er aus und lag dann still.
    Noch lange hielt Cædmon die Hände seines Vaters umklammert und lehnte die Stirn an seine Schulter.
     
    Die zwei Jahre, die er von zu Hause fort gewesen war, verblaßten, selbst das Grauen der letzten Nacht und des Tages zuvor schien plötzlich eigentümlich entrückt und belanglos. Begebenheiten, Bilder und Gerüche seiner Kindheit, die er lang vergessen geglaubt hatte, waren auf einmal klar und scharf in seiner Erinnerung. Er entsann sich an den Tag, da sein Vater ihm die erste Schleuder geschenkt und ihm gezeigt hatte, wie man damit umging. Er erinnerte sich genau an Ælfrics strahlendes Gesicht an dem Morgen, als Eadwig zur Welt kam. Er dachte an Weihnachten am prasselnden Herdfeuer in der Halle, an Bratäpfel und lange Geschichten. Und er dachte an Dunstan, sein Lachen, seine Verwegenheit, seine gelegentliche gedankenlose Grausamkeit. Es fühlte sich an, als habe jemand eine Axt genommen und ein Stück von ihm abgehackt, etwas Lebenswichtiges, seine Wurzeln vielleicht. Und er fragte sich, ob Lucien de Ponthieu wohl ähnlich empfinden würde, wenn er aufwachte und feststellte, daß ihm jemand den linken Arm genommen hatte.
     
    Er wußte nicht, wie lange er so reglos bei seinem Vater gekniet hatte, jedenfalls waren die Hände des Toten eiskalt, als er eine Berührung an der Schulter spürte und in die Wirklichkeit zurückkehrte. Er hob den Kopf und konnte kaum glauben, was er sah. Langsam und ein wenig unsicher kam er auf die Füße. Seine Beine waren eingeschlafen.
    »Ich bin erstaunt, daß Ihr die Zeit findet, zu Euren toten Feinden zu kommen, Monseigneur«, sagte er und gab sich nicht die geringste Mühe, seine Bitterkeit zu verbergen.
    William schüttelte den Kopf. »Ich komme zu Euch, nicht zu den Toten. Ich bedaure Euren Verlust, Cædmon. Aber ich müßte lügen, wollte ich sagen, ich bedaure den Tod von Ælfric of Helmsby. Der einzige meiner toten Feinde, mit dem ich gern Zwiesprache gehalten hätte, ist Harold Godwinson. Aber dazu hatte ich noch keine Gelegenheit. Er ist so zerstückelt, daß noch nicht alle Teile gefunden sind.«
    Cædmon wandte angewidert den Kopf ab. »Ich ersuche Euch um die Erlaubnis, meinen Vater nach Hause bringen zu dürfen. Und meinen Bruder. Falls ich ihn finde …«
    »Ich kann Eure Bitte leider nicht gewähren. Ihr seid hier unabkömmlich.«
    Cædmon hob das Kinn und verschränkte die Arme. »Ich wüßte wirklich nicht, wozu Ihr mich brauchen könntet.«
    »O doch. Das wißt Ihr ganz genau. Ich habe meinen Teil erfüllt, Cædmon.

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