Das zweite Königreich
Arbeit machen, sonst bin ich schon wieder in Schwierigkeiten. Wie wär’s, wenn du mir ein bißchen zur Hand gehst, Eadwig?«
Der Kleine rümpfte die Nase. »Das kann Ine ebensogut.«
Guthric packte ihn am Ärmel und zog ihn auf die Füße. »Du bist ein wahrer Faulpelz. Komm schon.«
Sie waren gerade im Stall verschwunden, als auf dem Pfad vor dem Tor Hufschlag erklang. Cædmon hob verwundert den Kopf. Sein Vater konnte es kaum sein, dazu war es noch zu früh.
Durch die Hecke ritt eine Gruppe von fünf Reitern in den Hof und hielt geradewegs auf die Halle zu. Der vordere war ein großer, breitschultriger Mann um die Vierzig mit einem riesigen silbrigblonden Schnurrbart und einem gewaltigen Schwert an der Seite. Er trug einen kostbaren Mantel und ritt ein Pferd, wie Cædmon es nie zuvor gesehen hatte. Er kannte sie nur aus Erzählungen. In der Sprache seiner Mutter nannte man solche Pferde Destrier. Schlachtrösser. Es war ein erschreckend großer, kraftvoller, aber feingliedriger Hengst mit glänzend schwarzem Fell, einem edlen Kopf und einem üppigen, gewellten Schweif, und sowohl der Sattel als auch das Zaumzeug waren verschwenderisch mit Silber verziert. Die anderen Männer waren unauffälliger gekleidet und ritten schlichte Kaltblüter. Sie verblaßten neben ihrem Anführer, doch waren sie bis an die Zähne bewaffnet und trugen matte Helme mit Nasenschutz. Housecarls, schloß Cædmon.
Vor der Halle hielten sie an und saßen ab.
Cædmon kam auf die Füße, humpelte eilig herbei und verneigte sich höflich vor dem feingekleideten Mann. »Seid willkommen, Mylord. Cædmon of Helmsby, zu Euren Diensten.«
Der Besucher lächelte und zeigte zwei Reihen ebenmäßiger, gesunder Zähne. Das Lächeln machte sein Gesicht freundlich, beinah übermütig, hatte aber gleichzeitig etwas eigentümlich Beunruhigendes. Es schien seine hellblauen Augen nicht zu erreichen. Sie sahen ihn durchdringend an.
»Wo ist dein Vater, Junge?«
»Zum Folcmot in Metcombe, Mylord. Wir erwarten ihn erst heute abend zurück. Wenn Ihr auf ihn warten wollt, tretet ein.«
Der Fremde verschränkte die Arme und legte den Kopf zur Seite. »Ich weiß, daß die Leute in East Anglia für ihre Gastfreundschaft berühmt sind, aber denkst du nicht, es ist gefährlich, einen Mann in die Halle deines Vaters zu bitten, dessen Namen du nicht einmal kennst?«
Cædmon biß sich nervös auf die Unterlippe, senkte den Blick und nickte verlegen. »Ich wußte nicht so recht, wie ich danach fragen sollte.«
Der Mann lachte leise. »Ist deine Mutter daheim?«
»Ja, Mylord.«
»Dann geh und sag ihr, Harold Godwinson bittet ergeben um einen Bissen Brot und einen Schluck Bier.«
Cædmons Herz machte einen Satz. Aber in seinem Gesicht regte sich nichts, er blinzelte nicht einmal. Er verneigte sich nochmals. »Sofort, Mylord.«
Hastig wandte er sich ab und stieg die drei Stufen zum Eingang der Halle hinauf, konzentrierte sich darauf, das linke Bein so wenig wie möglich nachzuziehen. Vor der Tür blieb er stehen und rief zum Pferdestall hinüber: »Guthric, wir haben Gäste! Kümmere dich um die Pferde!«
Dann eilte er hinein. Marie kam ihm schon in der Halle entgegen. »Cædmon? Ich habe dich rufen hören. Wer ist es denn?«
Er schüttelte fassungslos den Kopf. »Er behauptet, er sei Harold Godwinson.«
Maries Augen weiteten sich für einen Moment. Dann legte sie ihm kurz die Hand auf die Wange, wandte sich ab und ging zur Tür.
Der hohe Besuch versetzte den ganzen Haushalt in helle Aufregung. Jeder Mann, jedes Kind, jeder Knecht und jede Magd in Helmsby hatte schon von Harold Godwinson gehört, aber niemand außer Ælfric und Marie war ihm je begegnet. Harold Godwinson war der Earl of Wessex, und das allein schon machte ihn zu einem sehr mächtigen Mann, denn Wessex war die größte und bedeutendste Grafschaft Englands. Aber er war viel mehr als das. Er war König Edwards Schwager – Harolds Schwester Edith war die ungeliebte, kinderlose Königin an Edwards Seite. Harolds Brüder waren die Earls von Northumbria, East Anglia und Kent. Kurzum, die Godwinsons regierten England – während König Edward sich dem Kirchenbau widmete –, und Harold regierte die Godwinsons.
Marie schickte Cædmon und Guthric, ihrem Vater entgegenzureiten, und sie machten sich umgehend auf den Weg. Im Wald war es kühl. Eine leichte Brise bewegte die Zweige und verstärkte den würzigen Duft von Walderde und Frühlingsblüte. Die Sonne ließ das erste zarte Grün der
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