Das zweite Königreich
ihm, los, los, worauf wartest du!«
Der Soldat öffnete erleichtert die Tür, winkte, und augenblicklich trat Etienne ein. Er sah schrecklich aus. Cædmon unterdrückte nur mit Mühe einen bestürzten Ausruf. Sein Freund wirkte so bleich und schmal, als habe er die letzten Monate in einem lichtlosen Verlies verbracht, nicht am flämischen Hof. Getrocknetes Blut, das offenbar von einer Wunde an der Schläfe rührte, verklebte Stirn und Wange. Zwei, drei Tage alte Stoppeln bedeckten sein Kinn, seine Kleidung war dreckbeschmiert und teilweise zerrissen, und seine Augen waren trüb vorErschöpfung. Vor dem König sank er auf die Knie und senkte den Kopf. »Verzeiht mir, Sire.«
William sah unbewegt auf ihn hinab. »Ich nehme an, es sind keine guten Nachrichten, die Ihr bringt.«
Etienne schüttelte den Kopf.
»Sagt es mir. Und erhebt Euch.«
Etienne stand auf. Er schwankte leicht, Cædmon streckte die Hand aus und stützte ihn einen Moment, ließ ihn aber sofort wieder los.
»Robert le Frison stellte sich zur Schlacht, Sire. Er hat gesiegt. Flandern gehört ihm, Richildis ist gestürzt. Und … mein Vater ist gefallen.«
Der König zuckte fast unmerklich zusammen. Es war totenstill im Raum, selbst Warenne hatte sein unablässiges Schniefen eingestellt. Nur der eisige Wind, der um die alte Halle von Westminster fegte, war zu hören. In Williams rechter Wange zuckte ein Muskel. »Wann?«
»Vorgestern, Sire.«
Der König wandte sich ab, trat langsam ans Fenster und starrte auf den verwitterten Laden, der gegen Schnee und Kälte geschlossen worden war. »Oh, Guillaume, mein treuer alter Freund …«, hörten sie ihn murmeln.
»Sire …«, begann Warenne unsicher, aber der König hob abwehrend die Hand. Alle starrten beklommen auf seinen breiten Rücken, den gesenkten Kopf.
»Laßt mich allein, Monseigneurs, seid so gut«, bat er ungewohnt höflich.
Montgomery öffnete die Tür, wartete, bis alle draußen waren, und folgte als letzter. Im Vorraum blieben sie einen Moment stehen.
Robert, der Bruder des Königs, legte Etienne die Hand auf die Schulter. »Es tut mir sehr leid, fitz Osbern.«
»Danke.«
»Wissen Eure Brüder es schon?« fragte Montgomery.
Er schüttelte den Kopf. »Ich bin vom Schlachtfeld aus hierhergekommen.«
»Ja, das sehe ich. Schlaft ein paar Stunden, Junge. Aber schickt Euren Brüdern Boten, ehe sie es aus zweiter Hand erfahren.«
»Ich kümmere mich darum, wenn du willst«, erbot sich Cædmon.
Etienne sah ihn blinzelnd an. Jetzt da er hier war und seine schlechte Nachricht überbracht hatte, konnte er sich wirklich kaum noch auf den Beinen halten. »Danke, Cædmon.«
»Und ich gehe und sage es der Königin«, murmelte Robert seufzend und fügte hinzu, was alle dachten, aber niemand außer ihm zu sagen gewagt hätte: »Wenn irgendwer dem König in dieser bitteren Stunde Trost spenden und uns alle vor seinem Zorn bewahren kann, dann sie.«
»Gott, Cædmon, was für ein furchtbares Gemetzel. Dabei hat mein Vater nicht einen einzigen taktischen Fehler gemacht. Aber sie waren in der Überzahl. Und vor allem wollten sie keine regierende Herzogin mit einem normannischen Ehemann. Die Flamen lieben diesen gottverfluchten Robert le Frison.«
Etienne seufzte tief und stützte das Kinn auf die Faust. Er hatte geschlafen, ein Bad genommen, sich rasieren lassen und trug saubere Kleidung, sah tatsächlich wieder so tadellos gepflegt und vital aus wie eh und je. Nur in den Augen konnte man die Spuren von Strapazen und Kummer noch erkennen.
Von ihrem Platz im oberen Drittel der linken Tafel ließ Cædmon den Blick über die Halle schweifen. Sie füllte sich langsam, und die Tische wurden gedeckt. Alle Geräusche schienen seltsam gedämpft. Man hörte weder Lachen noch Fluchen. Die königliche Halle von Westminster war heute ein Haus der Trauer.
»Es tut mir wirklich sehr leid, Etienne.«
Sein Freund hob den Becher an die Lippen und zuckte fast unmerklich mit den Schultern. »Nun ja. Ich erzähle dir nichts Neues, wenn ich dir sage, daß mein Vater und ich uns nicht nahestanden, nicht wahr. Es war grauenhaft, ihn sterben zu sehen. Und gewiß ist es ein großer Verlust für England und die Normandie. Aber wer behauptet, daß der Schmerz des Königs größer sei als meiner, sagt vermutlich die Wahrheit.«
»Mag sein. Aber so nach Hause zu kommen, und dann auch hier noch schlechte Neuigkeiten zu hören …«
Ein Schatten huschte über Etiennes ebenmäßiges Gesicht, und er senkte einen Moment
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