Das zweite Königreich
verblüfft.
Hyld dachte bei sich, daß er für einen Heiler wenig von der Welt kannte, und erklärte, was in England jedes Kind wußte: »Die Bernikelgans schlüpft im Meer. Aus der Entenmuschel, die ja daher ihren Namenhat. Darum ist die Bernikelgans ein Fisch, auch wenn sie wie ein Vogel aussieht, und Fisch dürfen wir freitags essen.«
Malachias dachte bei sich, daß, was einen Schnabel und Flügel hatte, ganz gewiß ein Vogel war. Vermutlich hatte man die Eier dieser Gans nur deshalb in England noch nie gesehen, weil sie sie in fernen Ländern legte und ausbrütete, ehe sie hierherzog, denn Gänse waren Wanderer, genau wie Juden. Dieses Volk hier war so unglaublich ungebildet, daß es ihn manchmal erschütterte, und die Normannen waren nur wenig besser. Aber er ließ sich seine Skepsis nicht anmerken, sondern sagte: »Nun, mir scheint, Eure Speisegesetze sind noch seltsamer und komplizierter als unsere, Madame.«
Sie erkannte am verräterischen Blitzen seiner schwarzen Augen, daß er sie auf den Arm nahm, und lächelte. »Wie wäre es mit ein bißchen Obst?«
Er deutete eine kleine Verbeugung an. »Sehr gern.«
Dover, Juli 1076
Ein etwa zwei Fuß breiter Leinenstreifen lag auf dem kostbaren byzantinischen Tisch, drei Köpfe waren emsig darüber gebeugt.
»Wir sollten nur die vorderen drei oder vier Pferde hintereinander galoppierend darstellen«, sagte Hyld nachdenklich. »Die nachfolgenden zeichnen wir versetzt nebeneinander. Das gibt den Eindruck einer geschlossenen Reihe von Reitern und dem Bild mehr Dichte.«
»Aber es müssen genug sein, daß es wie eine Armee aussieht«, erinnerte Odo sie etwa zum zehnten Mal.
»Und die Reitergruppe muß so weit in die Länge gezogen sein, daß darüber genug Platz für die Inschrift ist«, gab Bruder Oswald zu bedenken.
»Wie lautet die Inschrift gleich wieder?« fragte Hyld seufzend. Dieser unsinnige Buchstabensalat in ihren kunstvollen Bildern war ihr ein Dorn im Auge.
Oswald zog ein eselohriges Stück Pergament zu Rate. »Mal sehen … Hier ist es: ›Und sie zogen in den Kampf gegen König Harold‹. Also etwa: ›et venerunt ad prelium contra Haroldum rege‹.«
»Regem«, verbesserte Odo mit vorwurfsvollem Unterton.
»Ihr habt natürlich recht«, räumte Bruder Oswald ein, richtete sich auf und drückte die Hand in sein schmerzendes Kreuz. »Ich bin so müde, daß ich kein Latein mehr kann«, gestand er.
Hyld ignorierte seine Klage. »Zeichnet die Buchstaben ein, Bruder, damit ich sehe, wie breit die Reitergruppe werden muß. Und was soll oben und unten in die Borte, Monseigneur?« fragte sie den Bischof. Odo dachte einen Moment nach. »Oben vielleicht ein Angelsachse und seine Frau? Sie bringt ihm in aller Eile die Rüstung, ehe er sie ein letztes Mal …«
»Ihr wollt noch mehr nackte Menschen in der Borte?« fragte Oswald ungläubig.
Der Bruder des Königs klopfte dem Mönch die magere Schulter. »Nur weil Ihr sie so vortrefflich zeichnet, mein Freund. Und dieser Teppich soll so viele Details erzählen wie nur möglich …«
»Warum konntet Ihr mich nicht in meinem Kloster in Winchester lassen?« brummte Oswald. »Ich werde ein Jahr auf den Knien verbringen müssen, um für all diese anstößigen Zeichnungen zu büßen.«
Odo lachte. »Wenn das so wäre, sähe man keinen Benediktiner je anders als auf den Knien rutschend, bei all den nackten Weibern, die ihr in eure frommen Illuminationen schmuggelt … ähm, ich bitte um Verzeihung, Madame.«
Hyld grinste und trat ans Fenster, wo fünf Frauen um einen langen, schmalen Rahmen herumsaßen, in den einer der Leinenstreifen eingespannt war, und die Stickereien auf den von Oswald und Hyld angefertigten Zeichnungen ausführten. Sie verwendeten Wollgarn in acht verschiedenen Farben, und Hyld mußte gestehen, daß das Ergebnis in der Tat prachtvoll und farbenfroh wirkte, die Posen der Pferde und die Gesichter der Reiter so lebhaft, daß man meinen konnte, im nächsten Moment müsse man das Donnern vieler Hufe hören und sie alle aus dem Bild preschen sehen. »Dieser Schild ist wunderbar, Hedwig«, lobte sie die Novizin aus Canterbury, die Jüngste und Unsicherste unter den Stickerinnen.
»Aber es wird Jahre dauern, all die kleinen Ringe der vielen, vielen Kettenhemden zu sticken«, klagte Mildred, Hedwigs ältere Mitschwester. »Können wir nicht einfach nur den König und den König … ich meine König William und Harold Godwinson in Rüstungen stecken?« »Nein, Madame«, widersprach Odo
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