Das zweite Königreich
festsitzen, was glaubt Ihr, Bruder?« »Oh …« Oswald streckte die Beine aus. »Ich würde sagen, das hängt ganz von uns ab. Wenn wir darauf warten wollen, bis Guy und William sich über uns geeinigt haben, werden wir hier alle graue Bärte kriegen.« Cædmon schüttelte seufzend den Kopf und stützte das Kinn auf die Faust. »Gott, wie ich wünschte, ich wäre zu Hause.«
»Ja. Ich denke, so ergeht es uns allen heute abend. Wo bist du zu Hause?« Cædmon erzählte von Helmsby. Aber er sagte nicht viel. Je länger er daran dachte, um so schlimmer wurde sein Heimweh, und er legte wirklich keinen Wert darauf, vor Bruder Oswald, Earl Harold und seinen rauhbeinigen Housecarls in Tränen auszubrechen. »Und was ist mit Euch? Woher kommt Ihr?«
»Aus Somerset. Ich war in Glastonbury auf der Klosterschule und bin dann nach Winchester und weiter nach Ely. Ich bin eine rastlose Seele, weißt du.«
»Eine ungewöhnliche Neigung für einen Mönch, oder?«
»Worauf du dich verlassen kannst. Und jetzt versuch zu schlafen, Freund Cædmon.«
»Es ist so kalt. Ich wünschte, ich hätte eine Decke.«
»Und ich wünschte, ich hätte Flügel. Tut das Bein weh, wenn du frierst?« Cædmon wandte den Kopf ab. »Ein bißchen.«
»So, du wirst also abweisend, wenn man darauf zu sprechen kommt, ja? Erzählst du mir trotzdem, wie es passiert ist?«
Cædmon atmete tief durch. »Ich war mit meinem Bruder auf der Jagd. Ein dänischer Pirat hat auf uns geschossen, und der Pfeil traf mich oberhalb des Knies.«
»Und dein Bruder?«
Cædmon schüttelte den Kopf. »Keinen Kratzer.«
Oswald nickte nachdenklich und legte ihm kurz die Hand auf die Schulter. »Leg dich hin. Und morgen sehen wir zu, ob wir eine Decke für dich kriegen.«
Nicht nur Cædmon, sondern jeder der Männer bekam eine Decke. Sie wurden auch anständig beköstigt. Am zweiten Abend ließ Guy de Ponthieu Harold gar in seine Halle bringen und lud ihn ein, mit ihm zu speisen. Offenbar hatte er sich besonnen und war zu dem Schluß gekommen, daß es seinen Absichten nicht dienlich war, den Earl of Wessex zu erniedrigen und sich somit zum Feind zu machen, denn er war der mächtigste Mann in England, und im Gegensatz zu seinen Soldaten wußte Guy, daß England nahe genug am Ponthieu lag, um ein gefährlicher Feind zu sein. Also behandelte er Harold zuvorkommend, wenn auch ohne alle Herzlichkeit. Auf Harolds Gefolge erstreckte sich sein Sinneswandel hingegen nicht. Sie blieben weiterhin eingesperrt, und die Laune der Männer wurde immer finsterer. Wenn Harold in die Halle geführt wurde und nicht da war, um ihnen Respekt einzuflößen, fürchtete Cædmon sich vor den rauhen, übellaunigen Gesellen, verzog sich in einen Winkel im Schatten und versuchte, nur ja niemandem im Weg zu sein. Bruder Oswald konnte ihm nicht helfen, denn er begleitete Harold, um für ihn zu übersetzen. Cædmon war noch keinmal aufgefordert worden, diese Aufgabe wahrzunehmen, aber nach etwa einer Woche kam er trotzdem aus dem finsteren Kellerloch heraus. »Du«, sagte der Normanne, der ihnen meistens das Essen brachte, und trat vor ihn. »Du sprichst unsere Sprache, richtig?«
Cædmon nickte.
»Steh gefälligst auf, wenn ich mit dir rede!«
Der Junge kam langsam auf die Füße.
»Komm mit. Ich bin es satt, euch zu bedienen, von jetzt an bring’ ich dich morgens und abends in die Küche, und du kannst euer Essen da abholen, verstanden?«
»Ja, sicher«, antwortete Cædmon überrascht. Dagegen hatte er nun wirklich nichts. Auf eine Geste des Soldaten ging er voraus zur Tür. Als der Mann sein Humpeln bemerkte, das durch die Tage und Nächte in der feuchten Kälte hier unten wieder schlimmer geworden war, fragte er: »Wird es auch gehen mit dem Korb? Wenn du euer Essen fallen läßt, müßt ihr hungern.«
Cædmon verzog das Gesicht. »Wenn ich das Essen für Earl Harolds Männer fallen lasse, ist Hunger vermutlich die kleinste meiner Sorgen. Es wird gehen, keine Bange.«
Der Mann lachte leise, führte ihn die Außentreppe hinauf und zum Haupteingang der Burg. Es war noch früh am Tag, die Sonne lugte gerade erst über die östlichen Palisaden. Aber der Morgen war angenehm lau, und die sanfte Brise roch nach Meer. Cædmon atmete tief durch. Es kam ihm vor, als sei er jahrelang eingesperrt gewesen.
»Wie lange dauert es, bis ein Comte einem Herzog einen Earl verkauft hat?« fragte er seinen Bewacher.
Der Mann schmunzelte und hob die Schultern. »Da fragst du mich zuviel. Wie kommt es, daß du
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