Das zweite Königreich
legte die Hände auf seine Schultern und glitt graziös aus ihrem Damensattel. Er sagte etwas, und sie lachten beide. Dann wandte das Mädchen sich an einen der Begleiter, einen Falkner, der einen kleinen, weißbrüstigen Sperber hielt. Sie nahm den Vogel auf ihre behandschuhte Linke, zog ihm mit der Rechten die Haube vom Kopf und küßte ihn gleich über den Augen. Cædmon stockte der Atem. Aber der Vogel hielt vollkommen still, ließ die Liebkosung huldvoll über sich ergehen und schien gar mit gesträubtem Gefieder die Brust ihren streichelnden Fingern entgegenzuwölben. Sie lachte, ihre langen, dunklen Haare fielen wie ein Schleier über den Sperber, schließlich streckte sie die Arme empor und gab ihn dem Falkner zurück. Dann nahm sie ihren Bruder bei der Hand. »Komm, Lucien«, hörte Cædmon sie sagen. »Du schuldest mir ein Seidenband, und ich will es vor dem Essen.«
Er ließ sich willig von ihr fortzerren.
Cædmon sah ihnen nach, bis sie in der Burg verschwunden waren, dann nahm er den Korb auf, um in sein freudloses Quartier zurückzukehren, als plötzlich mehrere Dinge gleichzeitig passierten.
Der Sperber, seiner Haube immer noch ledig, breitete die Schwingen aus und flog von der Faust des Falkners, ehe dieser die Halteleine ergreifen konnte. Der Vogel zog einen engen, niedrigen Kreis, tauchte unter dem Kinnriemen der Stute hindurch, die sich so erschreckte, daß sie wiehernd stieg und in das reiterlose Pferd neben ihr pflügte, den Apfelschimmel des jungen Edelmannes, den das Mädchen Lucien genannt hatte. Beide Pferde gingen durch und rasten in entgegengesetztenRichtungen mit schleifenden Zügeln durch den Burghof. Die übrigen Reiter der Jagdgesellschaft saßen eilig ab, brachten sich in Sicherheit oder versuchten, Vogel und Pferde wieder einzufangen. Die beiden Torwachen schnitten dem Schimmel den Weg ab, der auf die Palisaden zuraste, und er riß den Kopf herum, machte kehrt und floh Richtung Burgturm. Er hielt schnurgerade auf Cædmon zu. Der Junge rührte sich nicht. Er ließ lediglich seinen Korb fallen und machte sich bereit, im richtigen Moment beiseite zu springen. Doch der junge Hengst umrundete ihn schlitternd, machte noch ein paar bockige Sprünge und kam kurz vor der steinernen Außentreppe zum Halten. Cædmon nahm einen Apfel aus dem Korb und hinkte langsam auf ihn zu. »Es ist gut. Hab keine Angst mehr. Sieh mal, was ich hier habe …«
Seine Stimme schien das verschreckte Tier zu beruhigen. Es stand still, die aufgerichteten Ohren bebten, und es hatte sich noch nicht wieder weit genug gefangen, um Interesse für den Apfel zu zeigen, aber es ließ zu, daß Cædmon nähertrat. Ohne Eile nahm er den Zügel in die Linke. »So ist gut.«
Der junge Schimmel ließ sich willig Richtung Pferdestall führen. Die Stute hingegen jagte immer noch kreuz und quer durch den Innenhof, und das zornige Gebrüll ihrer Verfolger bewog sie nicht gerade, sich zu beruhigen.
Cædmon hatte den Hof zur Hälfte überquert, als er wie angewurzelt stehenblieb. Die beiden Falkner hatten nur Augen für den Sperber, der sich über dem Hühnerhaus in immer weiteren Kreisen in die Höhe schraubte; die Halteleine flatterte hinter ihm wie ein dünner Drachenschwanz. Die übrigen Jäger und die Wachen rannten der Stute hinterher.
Das Tor war frei.
Ohne jede Hast, aber mit einem gewaltigen Brausen in den Ohren nahm Cædmon den Zügel kürzer, stemmte sich in gewohnter Weise hoch und glitt in den Sattel. Er ließ sich keine Zeit, den tauben Fuß mit den Händen in den Steigbügel zu führen, stieß statt dessen dem Schimmel leicht die Fersen in die Seiten, und das Pferd trug ihn folgsam aufs Tor zu.
»Da!« schrie eine junge Soldatenstimme. »Seht doch, der Engländer!« Alle im Hof versammelten Normannen ließen von ihrer Jagd ab und eilten statt dessen Richtung Tor. Cædmon verstärkte den Druck seiner Schenkel, und das Pferd galoppierte an. Der Falkner, der den Sperbergehalten hatte, rannte quer über den Hof zum Tor. Cædmon sah, daß der Normanne vor ihm dort ankommen würde. Er kniff die Augen zusammen und lehnte sich leicht vor. »Lauf. Lauf doch, du Klepper …« Pferd und Falkner rannten im spitzen Winkel aufeinander zu. Wenige Ellen vor dem Tor trafen sie zusammen. Cædmon spürte das Pferd leicht schwanken, als es mit dem rennenden Mann zusammenprallte, aber seine Geschwindigkeit hielt es auf Kurs. Aus dem Augenwinkel sah Cædmon den Falkner mit ausgestreckten Armen und Beinen im Gras landen, und dann
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