Das zweite Königreich
eine Regel, die besagt, daß man über die Toten nichts Schlechtes sagen darf. Wenn einem nichts Gutes einfällt, sagt man besser gar nichts, verstehst du.« Wulfnoth nickte ernst und sah ihn unverwandt an. »Bleibst du jetzt hier, Vater? Oder mußt du wieder fortgehen?«
Cædmon war verwundert und nicht wenig geschmeichelt, daß dem Jungen offenbar soviel daran lag. Bis auf das knappe Jahr, das sie zusammen an Odos Hof in Dover gewesen waren, hatten sie schließlich nie zusammen gelebt; Hengest der Müller hatte eine weitaus größere Rolle in Wulfnoths jungem Leben gespielt als Cædmon.
»Vorläufig bleibe ich erst einmal hier. Ihr habt mir gefehlt, weißt du. Und wenn der König nach England zurückkommt und nach mir verlangt … nun, was dann werden soll, überlegen wir uns, wenn es soweit ist. Und jetzt setz dich wieder an deinen Platz und iß auf. Das gilt auch für dich, Ælfric.«
Sein Vetter Alfred hatte inzwischen ein paar Anweisungen gegeben, und zwischen Odo und Guthric waren in der Mitte der hohen Tafel zwei Sessel aufgestellt worden.
Cædmon führte Aliesa an ihren Platz und setzte sich neben sie. Als er nach seinem Becher griff, stellte er fest, daß jedes Augenpaar in der Halle auf ihn gerichtet war. Er verharrte mit dem Becher auf halbem Weg zum Mund und stellte ihn dann wieder ab.
»Heute ist ein Trauertag in Helmsby«, begann er, nicht laut, aber es war so vollkommen still, daß man seine Stimme auch am gegenüberliegendenEnde der Halle deutlich hören konnte. »Und es wäre respektlos der Verstorbenen gegenüber, von anderen Dingen als ihrem Andenken zu sprechen. Ihr alle wißt, was für eine Frau meine Mutter war, so manchen von euch hat sie genau wie mich von Verwundungen und Krankheiten geheilt, hat eure Kinder auf die Welt geholt, eure Väter und Mütter fürsorglich bis zu der Schwelle begleitet, die sie nun selbst überschritten hat. Sie hat dafür gesorgt, daß auch in schlechten Jahren keiner von uns Hunger leiden mußte und wir alle jeden Abend an ein warmes Feuer heimkehren konnten. Darum bin ich sicher, ihr werdet meiner Bitte bereitwillig folgen und für die Seele meiner Mutter beten. Und ihr sollt wissen, daß Gott es so gefügt hat, daß die Halle von Helmsby keinen Tag ohne Herrin sein soll.« Er sah mit einem fast schüchternen Lächeln zu Aliesa, nahm ihre Hand und führte sie einen Moment an die Lippen. »Dies ist Aliesa de Ponthieu, meine Frau. Und wer von euch mir ergeben ist, wird sie willkommen heißen und ihr ebenso treu dienen wie mir. Ja … das ist alles, schätze ich.«
Einen Augenblick herrschte unsichere Stille. Dann erhob sich der alte Cynewulf, der schon Cædmons Vater gefolgt war. Sein weißes Haar war dünn geworden, fiel aber auf immer noch breite, aufrechte Schultern, und seine meergrauen Augen waren klar und scharf. »Ihr habt recht, Thane, der heutige Tag gehört dem Andenken Eurer Mutter. Erlaubt mir trotzdem, Euch und Eure Braut daheim willkommen zu heißen. Gott segne den Thane und die Lady Aliesa und schenke ihnen ein langes Leben und ein Dutzend gesunder Kinder.«
Mit einem verschmitzten Lächeln hob er seinen Becher, und alle an der Tafel Versammelten murmelten Zustimmung und folgten seinem Beispiel. Cædmon nickte Cynewulf seinen Dank zu und sah aus dem Augenwinkel, daß Aliesa dem treuen Housecarl ein so strahlendes Lächeln schenkte, daß sich auf den alten Wangen eine feine Röte ausbreitete.
Odo lehnte sich zu Cædmon hinüber und raunte: »Das habt Ihr fabelhaft gemacht, Thane. Aber habt Ihr nicht eine Kleinigkeit vergessen?«
Cædmon nahm von Helen einen gutgefüllten Teller entgegen und fragte mit gerunzelter Stirn. »Und zwar?«
»Noch ist sie nicht Eure Frau, oder? Und ich bin gespannt, wo Ihr einen Priester finden wollt, der sich traut, Euch zu trauen, wenn Ihr das Wortspiel verzeihen wollt.«
Der Thane nahm eine Fasanenkeule in die Hand, aß aber nicht, sondern wandte den Kopf und sah Odo offen an. »Ich hatte gehofft, Ihr.« Odo machte große Augen. »Ich? Das könnt Ihr Euch aus dem Kopf schlagen.«
Cædmon senkte verlegen den Blick. »Mir ist klar, daß es nicht ganz … unproblematisch ist, aber der König hat uns immerhin seine Erlaubnis erteilt.«
Der Bischof schüttelte entschieden den Kopf. »Trotzdem, Cædmon. Das könnt Ihr wirklich nicht verlangen. William ist ohnehin schlecht auch mich zu sprechen, weil ich es gewagt habe, einen durchaus berechtigten Anspruch auf ein paar Güter in Kent gegen seinen verehrten
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