Das zweite Königreich
Helmsby, Thane.« Er erwiderte Cædmons bangen Blick und nickte betrübt. »Eure Mutter hat nach ihm geschickt. Der Bote sagte, sie liege im Sterben.«
Helmsby, Juni 1079
Der Burghof lag ungewohnt verlassen unter dem wolkenverhangenen Himmel. Eine Schar Hühner pickte lustlos im Gras, aber kein Mensch war zu sehen.
»Wir kommen zu spät«, murmelte Cædmon beklommen.
Vor dem Pferdestall saßen sie ab. Weder der alte Edgar noch dessen Sohn Ine erschien, um ihnen die Tiere abzunehmen, nur Grim, Cædmons zottiger, grauer Jagdhund, kam schnaufend aus dem Schatten des Stalltors in den Nieselregen hinaus, und als er Cædmon entdeckte, wedelte seine mächtige Rute, und mit einem leisen Winseln legte er sich seinem Herrn zu Füßen.
Cædmon fuhr ihm mit der Rechten kurz über die lange Schnauze. »Treuer Grim. Nach so langer Zeit erkennst du mich wieder. Du bist ein alter Knabe geworden, was?«
Der Hund sah ergeben zu ihm auf, und als Cædmon sich abwandte, um Aliesa aus dem Sattel zu helfen, kam er mit einem Satz auf die Beine, sprang übermütig um sie herum und beschnüffelte mit vornehmer Zurückhaltung Aliesas Kleidersaum.
Cædmon band die Pferde an und nahm ihren Arm. »Laß uns hineingehen. Komm nur mit, Grim.«
Er führte sie zur Zugbrücke, und die Torwachen machten große Augen, als sie ihn entdeckten.
»Thane! Willkommen daheim. Wir hatten keine Nachricht, daß Ihrkommt«, begrüßte der junge Odric ihn freudestrahlend. Dann verdüsterte sich seine Miene, und er zog unbehaglich die Schultern hoch. »Ich fürchte nur …«
Cædmon hob die Hand. »Ich weiß. Odric, Elfhelm, das ist meine Frau, Aliesa de Ponthieu.«
Die Housecarls erinnerten sich sehr wohl an die schöne Normannin, die vor einigen Jahren hier zu Besuch gewesen war, aber wenn es sie verwunderte, daß aus der Frau des Sheriffs von Cheshire inzwischen die Frau ihres Thane geworden war, ließen sie es sich jedenfalls nicht anmerken. Sie verneigten sich ehrerbietig.
»Dann seid auch Ihr willkommen daheim, Lady«, begrüßte Odric sie mit seinem charmanten Lächeln.
Sie fand es ausgesprochen merkwürdig, von einer Torwache willkommen geheißen zu werden, aber natürlich wußte sie, daß dies zu den vielen Dingen gehörte, die hier anders waren, und daß die Housecarls in einem kleinen, überschaubaren Haushalt mehr oder weniger zur Familie gehörten.
»Hab vielen Dank, Odric«, erwiderte sie in beinah akzentfreiem Englisch.
Dann legte sie die Hand wieder auf Cædmons Arm, und dicht gefolgt von Grim überquerten sie die Zugbrücke und stiegen die Außentreppe zur Halle hinauf.
Odo, Hyld, Guthric, Alfred und Irmingard und Onkel Athelstan saßen mit Hylds und Cædmons Söhnen an der hohen Tafel. Vor ihnen stand Helen, die Köchin, und tranchierte einen goldbraun gebratenen Fasan. An den Längstischen saßen die Housecarls mit ihren Familien, weiter unten die Mägde und Knechte. Die Stimmung war gedrückt, man unterhielt sich gedämpft, und so hallte Ælfrics Stimme unglaublich laut durch den hohen Saal: »Vater!«
Er sprang auf, dann besann er sich, schlug die Hand vor den Mund und murmelte: »Entschuldigung.«
Immerhin macht er Fortschritte, dachte Cædmon und lächelte seinen Söhnen flüchtig zu, als er mit Aliesa die Halle durchschritt und die hohe Tafel umrundete. Vor Odo machten sie halt.
Cædmon verneigte sich tief.
Odo, Hyld und Guthric hatten sich erhoben. Der Bischof sah von Cædmon zu Aliesa und schüttelte mit einem leisen Seufzen den Kopf.Ehe er irgend etwas sagen konnte, trat Hyld zu ihrem Bruder und schloß ihn in die Arme.
»Cædmon. Ich bin so glücklich, daß du zu Hause bist.« Er spürte ihre Tränen an seinem Hals. »Mutter ist tot.«
Obwohl er es geahnt hatte, war er erschüttert. Er biß die Zähne zusammen, fuhr seiner Schwester übers Haar und küßte sie auf die Wange, ehe er sie losließ und seinen Bruder umarmte.
»Was …«, Cædmon mußte sich räuspern, »was ist passiert?«
»Lungenfieber«, erklärte Guthric knapp.
Alfred war hinzugetreten und klopfte Cædmon die Schulter. »Es hat schon im Winter angefangen«, sagte er. »Eigentlich war sie schon seit Jahren kränklich.«
»Sie wollte nicht mehr«, raunte Onkel Athelstan seinem leeren Becher zu. »Sie wollte schon lange nicht mehr, schon seit Ælfric fiel. Die verfluchten Normannen sind an allem schuld.«
Alfred stöhnte. »Vater, bitte …«
Cædmon legte seinem Onkel zum Gruß kurz die Hand auf die Schulter, ehe er wieder zu Odo und Aliesa
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