Das zweite Königreich
er den Widerstand niedergeschlagen. Ein paar Jahre bevor ich hierher kam, führte William Krieg gegen Geoffrey, den Herzog des Anjou. William war siegreich. Aber als er in der besiegten Stadt Alençon einmarschierte, schlugen die Einwohner mit Tierhäuten an die Wände ihrer Häuser. Die Mutter des Herzogs war eine Gerberstochter, verstehst du. Sie wollten ihm damit ihre Geringschätzung zeigen.« Wulfnoth brach ab.
»Und?« drängte Cædmon.
»William ließ zweiunddreißig von ihnen ergreifen und ihnen Hände und Füße abhacken.«
Cædmons Magen hob sich gefährlich. »O mein Gott …«
Wulfnoth zuckte seufzend die Schultern. »Du siehst, er ist empfindlich, was dieses Thema betrifft.«
Cædmon schluckte. »Ja. Sicher hat er viel darunter zu leiden gehabt.« Wenn er selbst plötzlich die Macht gehabt hätte, jeden zu bestrafen, der ihn einen Krüppel nannte, wäre er der Versuchung vermutlich auch erlegen.
»Möchtest du die Verliese sehen?« fragte Wulfnoth.
Cædmon winkte ab. »Von normannischen Verliesen habe ich für mein ganzes Leben genug gesehen.«
Wulfnoth lachte und sah zum Tor hinüber. Eine Schar normannischer Ritter zog auf der Burg ein. Es waren vielleicht zwanzig.
»Da kommen die ersten von Williams Kriegern«, bemerkte Wulfnoth. »Wenn Harold sich nicht beeilt, wird er den Herzog verpassen.«
»Aber wohin geht der Herzog?«
»Er zieht in den Krieg. Wieder einmal. Diesmal gegen Conan, den Herzog der Bretagne, der einem von Williams Vasallen aus heiterem Himmel ein, zwei Burgen abspenstig gemacht hat.« Wulfnoth schüttelte versonnen den Kopf. »Ich kann diese französischen Adligen wirklich nicht verstehen. Sie sollten doch langsam gelernt haben, daß gegen William kein Kraut gewachsen ist.«
Die folgenden beiden Tage verbrachte Cædmon meist in Wulfnoths Gesellschaft. Wulfnoth lud ihn sogar ein, in seinem Quartier zu schlafen. So geduldig er seine unverdiente Verbannung auch ertrug, genoß er es doch, wieder einmal seine Muttersprache zu sprechen und zu hören, mit einem Menschen zu reden, der dem gleichen Boden entstammte wie er, der zu denselben Heiligen betete, dem er nicht alles erklären mußte und der ihm nicht so von Grund auf fremd war. Er wurde nicht einmal böse, als er Cædmon mit seiner Laute erwischte. Voller Verblüffung hörte er zu, wie der Junge beinah Ton für Ton das kleine Hirtenlied nachzupfte, das Wulfnoth am Tag zuvor für ihn gespielt hatte, und als Cædmon zum Ende kam, Wulfnoths Anwesenheit bemerkte und das Instrument schuldbewußt aus der Hand legen wollte, ermunterte dieser ihn, fortzufahren. Von da an wurde die Lautenur noch selten in ihre Hülle verpackt. Während sich auf der Burg von Rouen Williams Heer versammelte, hockten die beiden Engländer Stunde um Stunde zusammen in ihrem Quartier oder draußen im sonnigen Hof und spielten, und Wulfnoth konnte einfach nicht fassen, wie schnell Cædmon lernte.
»Mir scheint, Gott hat dir eine Gabe geschenkt«, sagte er mit einem kleinen Lächeln. »Wie dem Heiligen, nach dem du benannt bist.«
Cædmon lachte verlegen. »Es ist furchtbar lästerlich, was du da sagst.« »Ja, bestimmt. Meine Furcht vor dem Zorn Gottes ist nicht mehr so groß, wie sie einmal war. Vermutlich weil ich glaube, daß er mich schon für all die Sünden bestraft hat, die ich nie Gelegenheit hatte zu begehen, da er mich hierher geschickt hat. Er, mein Vater und … der Mann, der gerade durchs Tor reitet.«
Cædmon sah auf. An der Spitze einer Reiterschar zog der Earl of Wessex auf der Burg von Rouen ein. Er ritt ein großes, stämmiges Schlachtroß wie das, mit dem er nach Helmsby gekommen war. An seiner Seite trug er sein großes Schwert, und er wirkte so stattlich, nahezu königlich, daß Guy de Ponthieu neben ihm völlig verblaßte. Ihnen folgten einige Ritter aus Guys Gefolge, Harolds Housecarls, Bruder Oswald, der junge Lucien, dessen Pferd Cædmon gestohlen hatte, und … sie .
Wulfnoth hatte nur Augen für seinen Bruder. »Harold«, flüsterte er tonlos. »O mein Gott, Harold. Dein Bart ist grau geworden …«
Cædmon sah, daß er die Hände zu Fäusten geballt hatte. Wulfnoth trat rastlos von einem Fuß auf den anderen, aber irgend etwas hinderte ihn, zu seinem Bruder zu gehen. Also blieben sie beide auf dem sonnigen Stück Wiese vor der Kapelle stehen und sahen zu, wie die Reisegesellschaft absaß, Soldaten und Stallknechte herbeiliefen, um die Pferde zu versorgen und den Ankömmlingen behilflich zu sein. Auch der Kapitän der
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