Das zweite Königreich
»Nein, Junge. Du wirst nicht mitkommen. Bruder Oswald soll jetzt während der Lagebesprechung für mich übersetzen und mich dann auch auf den Feldzug begleiten, wenn er so gut sein will. Du bist zu jung.«
»Aber, Mylord …«, wandte Cædmon entsetzt ein. »Bitte, laßt mich nicht hier zurück.«
Harold ging weiter, als habe er ihn nicht gehört. Fast beiläufig sagte erüber die Schulter zu einem seiner Männer: »Agilbert, nimm den Bengel mit nach draußen und bring ihm bei, mir nicht noch einmal zu widersprechen.«
Der Housecarl nickte knapp und winkte Cædmon mit einem Finger zu sich.
Cædmon verspürte einen heißen Stich im Magen, folgte der Aufforderung aber, ohne zu zögern.
Wulfnoth trat unauffällig zu seinem Bruder. »Überlaß den Jungen mir, Harold«, bat er leise.
Harold winkte ungeduldig ab. »Meinetwegen. Dann bring du ihm Manieren bei. Und jetzt verschwindet, allesamt.«
Wulfnoth trat aus dem Kreis der Ritter zurück und bedeutete Cædmon, ihm zu folgen. Erleichtert hinkte der Junge zu ihm hinüber, und gemeinsam verließen sie die Halle durch die hintere Tür und stiegen die zwei Treppen zu Wulfnoths Quartier hinauf.
Wulfnoth schloß die Tür, trat langsam auf Cædmon zu und baute sich vor ihm auf.
»Und jetzt?« fragte Cædmon rebellisch.
»Tja …« Wulfnoth betrachtete ihn eingehend. »Ich denke, jetzt nehmen wir uns die Laute und spielen weiter. Und ich fordere dich mit allem Nachdruck auf, dem ruhmreichen Harold Godwinson nie wieder zu widersprechen, vor allem nicht in der Öffentlichkeit, das untergräbt sein Ansehen, und in solchen Dingen ist er empfindlich.«
Cædmon lächelte befreit. »Ich werde dran denken. Danke, Wulfnoth.« Wulfnoth trat an den Tisch, holte das Instrument aus seiner Hülle und strich liebevoll über den Korpus. Dann reichte er es Cædmon. »Hier. Spiel, bis deine Finger bluten, und tu Buße.«
»Einverstanden.« Cædmon ergriff das zerbrechliche Instrument ohne alle Scheu, hockte sich damit auf einen Schemel, legte den Kopf schräg, um den Saiten mit dem Ohr näherzukommen, und stimmte sie nach. »Aber vorher sag mir eins. Wie ist es möglich, daß unser König Edward und der Herzog der Normandie Vettern sind?«
»Nun, wegen Emma, natürlich.«
»Emma?«
Wulfnoth lehnte sich mit verschränkten Armen an die Wand neben dem Fenster und nickte. »Emma. Frau und Mutter vieler Könige. Hast du nie von ihr gehört?«
Cædmon schüttelte den Kopf.
»Sie war eine normannische Prinzessin und wurde als junges Mädchen mit unserem König Æthelred verheiratet.«
»Æthelred, den sie ›den Unberatenen‹ nannten? Gott, das muß ja Ewigkeiten her sein.«
»Weit mehr als ein halbes Jahrhundert. König Edward ist ihr Sohn. Emma war eine Tante von Herzog Williams Vater. Darum sind er und Edward Vettern.«
»Verstehe.«
»Nachdem König Æthelred starb und England damit endgültig von seiner unseligen Regentschaft erlöste, heiratete Emma König Knut von Dänemark, der, wie du vermutlich weißt, auch König von England wurde. Ihr gemeinsamer Sohn Harthaknut folgte seinem Vater auf den englischen Thron. Erst als er starb, holte man Edward aus dem normannischen Exil nach England zurück und machte ihn zum König.«
Cædmon nickte. »Und somit war Emma Ehefrau und Mutter von je zwei Königen. Nicht schlecht. Sie muß es verstanden haben, im richtigen Moment die Seiten zu wechseln.«
»Oh, da bin ich nicht so sicher. Ich denke eher, daß die Macht immer dahin ging, wo Emma hinging. Eine wirklich große Frau.«
»Hast du sie gekannt?«
Wulfnoth hob kurz die Schultern. »Als Junge bin ich ihr einmal begegnet. Aber sie hat sich vom Hofleben ferngehalten nach Harthaknuts Tod. Ich glaube, sie hat König Edward ebenso verabscheut wie seinen Vater. Ihre Loyalität lag bei ihrem zweiten Mann und dessen Söhnen. Und deswegen hat Edward sie in einem Kloster eingesperrt, bis sie vor gut zehn Jahren starb. Er hatte eine Heidenangst vor seiner Mutter.« Cædmon schüttelte versonnen den Kopf. »Der König hatte also eine normannische Mutter, genau wie ich.«
»So ist es.«
»Mir war nie klar, wie alt die Beziehungen zwischen England und der Normandie schon sind, wieviel weiter sie zurückreichen als die Heirat meiner Eltern. Ich dachte immer, mein Vater sei eine Ausnahme mit seiner normannischen Frau.«
Wulfnoth schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein. Er befindet sich in königlicher Gesellschaft, wenn du so willst, selbst wenn es ein etwas merkwürdiger König war. Und
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