Das zweite Königreich
Bewunderung eines empfänglichen Zuhörers nie genug bekomme.«
Cædmon lachte leise. »Woraus sind die Schnüre, daß sie so tief in die Haut schneiden?«
»Saiten. Man nennt sie Saiten. Und sie sind aus Katzendarm.«
Cædmon verzog angewidert das Gesicht.
Wulfnoth griff unter die Bank und förderte einen Beutel aus weichem Wolltuch ans Licht, in den er seine Laute liebevoll einhüllte. »Und jetzt zeige ich dir die Burg, wenn du willst.«
Cædmon nickte. »O ja. Und ich würde furchtbar gern die Stadt sehen.«
Wulfnoth sah auf seine blutenden Finger hinab, strich behutsam mit dem Daumen darüber und schüttelte den Kopf. »Dafür mußt du dir einen anderen Führer suchen. Ich kann die Burg nicht verlassen.«
»Aber … warum nicht?«
»Das weißt du nicht? Ich bin Williams Geisel, Cædmon.«
Cædmon war erschüttert. »Ein Gefangener? Seit zwölf Jahren?«
Wulfnoth hob leicht die mageren Schultern. »In gewisser Weise. Es ist zu ertragen, weißt du. Mein Käfig ist groß und komfortabel. William erweist mir große Höflichkeit und Gastfreundschaft; wir alle tun so, als sei ich als Gesandter König Edwards hier. Nur dauert meine Gesandtschaft inzwischen doch schon sehr lange. Und wenn mein Bruder jetzt herkommt und mich wieder zurückläßt, dann …« Er winkte seufzend ab. »Ich weiß nicht, was dann passiert.«
Cædmon wußte nichts zu sagen. Er empfand tiefes Mitgefühl für Wulfnoth Godwinson, der so ganz anders war als sein Bruder, und große Bewunderung für die Geduld, mit der er sein Los hinnahm, vor allem aber für die wunderbare Musik, die er der Laute entlocken konnte. »Ich wünsche Euch von Herzen, daß Ihr mit nach England fahren könnt, wenn Earl Harolds Mission erfüllt ist.«
Wulfnoth atmete tief durch und stand auf. »Komm. Laß uns einen Rundgang machen, ehe es anfängt zu regnen.«
Die Burg von Rouen war wesentlich größer als die in Beaurain, aber nicht so grundlegend anders. Wulfnoth führte Cædmon erst auf die Brustwehr der Palisaden, zeigte ihm die Luken, durch die man Pfeile auf etwaige Angreifer hinabschießen oder sie mit siedendem Öl oder griechischem Feuer in die Flucht schlagen konnte. Umgeben war die Einfriedung von einem tiefen Graben, der vom Wasser der Seine gespeist wurde und über den eine Zugbrücke zum eisenbeschlagenen Tor führte. Im weiträumigen Innenhof befanden sich Wirtschaftsgebäude, Pferdeställe, Waffenkammern, eine Schmiede, Vorratshäuser und einegroße, kostbar ausgestattete Kapelle. Der eigentliche Burgturm aus grauen Steinquadern hatte sage und schreibe vier Stockwerke, wobei das zweite, das die riesige, säulengestützte Halle enthielt, höher war als die anderen. Unter der Halle befanden sich Küchen, Vorrats- und Wirtschaftsräume.
»In den Geschossen über der Halle liegen die Quartiere der vielen Höflinge und Würdenträger«, erklärte Wulfnoth. »Hier gibt es viel mehr Ämter als am Hof unseres Königs, weil es hier weitaus zeremonieller zugeht. Diese Normannen lieben den ganzen überflüssigen Pomp, sie versuchen, damit über die Tatsache hinwegzutäuschen, daß sie vor gut hundert Jahren noch heidnische Wilde waren, plündernde, räuberische Wikinger. Aber im Grunde können sie das nie verleugnen; sie haben es einfach noch in ihrem Blut. Weiter sind dort oben die Schreibstuben der Mönche, die William helfen, sein Reich zu verwalten, Quartiere für hohe Gäste und arme Geiseln wie mich.«
»Und wo schläft der Herzog? Gibt es eigentlich auch eine Herzogin?« »Ich bin nicht sicher, ob er überhaupt je schläft«, antwortete Wulfnoth. »Aber seine Privatgemächer liegen gleich über der Halle. Und ja, es gibt eine Herzogin, Matilda, eine sehr schöne, kluge Frau und der einzige Mensch, auf den William auch dann hört, wenn er anderer Meinung ist. Die beiden haben drei Söhne und zwei Töchter.«
»Und der Herzog? Wie ist er?«
»Du hast ihn getroffen, oder?«
Cædmon nickte zögernd. »Nur kurz. Er war sehr freundlich zu mir.« Er dachte daran, was William über seinen Vater gesagt hatte. »Es scheint ihm nicht viel auszumachen, daß er ein Bastard ist.«
Wulfnoth sah kurz über die Schulter. »Dieses Wort spricht man hier besser nicht laut aus, Cædmon«, warnte er. »Du irrst dich, weißt du. William mußte sehr hart kämpfen, um zu seinem Recht zu kommen, obwohl sein Vater ihn zu seinem Nachfolger bestimmt hatte. Mehr oder minder jeder Adlige der Normandie hat gegen William rebelliert, als er Herzog wurde. Nach und nach hat
Weitere Kostenlose Bücher