Das zweite Königreich
stellte. Doch als Jehan sich abwandte, flüsterte Lucien tonlos: »Du hast meinen Vater in Schwierigkeitengebracht. Und mein Pferd gestohlen. Das wird dir noch leid tun, ich schwör’s dir.«
Großartig, dachte Cædmon grimmig. Das wird ja immer besser …
Mit verwirrender Schnelligkeit fuhr Jehan wieder zu ihnen herum, packte jeden der beiden Jungen mit einer Hand an den Haaren und stieß sie hart mit den Köpfen zusammen. »Ich dulde nicht, daß hier geredet wird!«
Er ließ sie los. Lucien hielt das Gleichgewicht mit Mühe, aber Cædmon fiel, das lahme Bein knickte einfach unter ihm weg wie ein Strohhalm. Er rappelte sich sofort wieder auf und sah mit hochrotem Kopf und zornig blitzenden Augen in die Runde. Niemand lachte. Die meisten erwiderten seinen finsteren Blick offen, alle außer Lucien mit Freundlichkeit. Hier wurde nie über die Mißgeschicke eines anderen gelacht, sollte Cædmon schnell lernen. Ihr Haß auf Jehan de Bellême machte die Jungen zu Verbündeten.
»Also wenn ich die jungen Damen dann bitten dürfte …« Jehan machte eine auffordernde Geste. »Holt euch ein Pferd. Und wer als letzter zurück ist, wird sie nachher alle absatteln.«
Natürlich war Cædmon der letzte. Er versuchte nicht einmal zu rennen, weil er weder Rolands Mitgefühl noch Luciens Häme oder Jehans Spott hätte ertragen können, wenn sie seinen ungelenken Schweinsgalopp gesehen hätten. Er hinkte in aller Seelenruhe zum Stall, und als er hinkam, waren die anderen schon aufgesessen und preschten davon. Das Pferd, das sie ihm übriggelassen hatten, war erwartungsgemäß ein armseliger Klepper, der die Ohren nach hinten legte, als er seinen Reiter näherkommen sah, und gefährlich nach der Hand schnappte, die den Zügel ergriff. Cædmon saß auf, nahm die Zügel kurz und zog dem Klepper mit dem losen Ende eins über, als er bockte und ihn abwerfen wollte. Von da an ging das Pferd folgsam, wenn auch unwillig, aber trotzdem kam Cædmon erst Minuten nach den anderen zum Übungsplatz zurück.
Jehan war dabei, stumpfe Übungsschwerter an seine Zöglinge zu verteilen. Als er zu Cædmon trat, bemerkte er: »Ich glaube, ich muß dir etwas erklären, mein Junge. Wenn ich sage, ›Geht zum Pferdestall‹, dann meine ich, so schnell ihr könnt.«
Cædmon nahm sein Schwert in die Rechte. Es war unglaublich schwer. »Ich bin so schnell gegangen, wie ich konnte.«
Jehan runzelte die Stirn und ließ ihn nicht aus den Augen. »Dann solltest du zusehen, daß du ein bißchen schneller wirst. Sonst wirst dufeststellen, daß der Tag nicht genug Stunden hat, um all die Arbeiten zu erledigen, die du dir aufhalst.«
Die du mir aufhalst, meinst du wohl, dachte Cædmon wütend, aber er nickte nur.
Jehan klopfte dem biestigen Klepper den mageren Hals, und erwartungsgemäß schnappte das Pferd nach ihm, aber der vierschrötige Normanne wich mit erstaunlicher Geschmeidigkeit zurück. »Also dann. Roland und Philip, laßt uns sehen, was ihr könnt.«
Fürs erste paarte er die Jungen so, daß immer ein Schwächerer gegen einen Stärkeren kämpfte, was Cædmon wenigstens ersparte, gegen Lucien antreten zu müssen. Sein erster Gegner war Etienne, der ihm den Diebstahl seiner Schlafstatt bei weitem nicht so verübelte wie Lucien den seines Pferdes. Etienne ritt dicht an Cædmon heran und griff ihn mit harten, schnellen Schwerthieben an, hielt aber jedesmal inne, wenn der neue Mitschüler in Bedrängnis geriet. Cædmon bewunderte, wie geschickt Etienne die schwere Waffe handhabte, wie mühelos er gleichzeitig sein Pferd lenkte, praktisch nur mit den Knien. Mehr durch Zufall kam Cædmon mit einer wenig einfallsreichen Finte durch und konnte den Kampf für wenige Augenblicke an sich reißen. Etienne parierte seinen unkoordinierten Angriff geschickt, rief aber lachend: »Nicht schlecht für einen langhaarigen Barbaren!«
Cædmon erwiderte sein verwegenes Grinsen und stürzte sich mit mehr Eifer in den Kampf.
Jehan unterbrach sie schließlich, ließ sie absitzen und wieder in einer Reihe Aufstellung nehmen. Dann schritt er die Riege ab und erklärte einem jeden, welche Fehler er gemacht hatte, welche Gefahren sein Fehler barg und wie man ihn vermied. Ein Lob hatte er für niemanden. Als er schließlich bei Cædmon ankam, fragte er: »Wer hat dich unterrichtet?«
»Mein Vater oder einer seiner Housecarls … seiner Ritter.«
»Und hat dein Vater in vielen Schlachten gekämpft?«
Cædmon witterte eine Falle. Jeden Moment würde das ernste, narbige
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