Das zweite Königreich
schon werden«, sagte er zuversichtlich.
Cædmon schnaubte verächtlich und schüttelte die Hand ab.
»Glaub mir, ich weiß, wie du dich fühlst. Der erste Tag ist für jeden der schlimmste.«
Cædmon stand unvermittelt auf. Er konnte Etiennes Freundlichkeit nicht ertragen. Sie gab ihm den Rest. »Laß mich zufrieden.« Er wandte sich zur Tür.
»Aber wo willst du denn hin?«
»Wo soll ich schon hingehen? Ich habe noch wenigstens zwanzig Helme zu putzen.« Ohne eine Antwort abzuwarten trat er auf den Korridor hinaus. Er lehnte sich an die kalte Steinmauer, starrte in die zuckende Flamme einer Fackel an der gegenüberliegenden Wand und wog ab, was er tun sollte. In Wirklichkeit hatte er nicht die geringste Lust, jetzt noch einmal durch den strömenden Regen zur Waffenkammer zu laufen und seine Arbeit zu beenden. Er hatte mehr als genug davon. Gott, ich muß weg von hier, dachte er verzweifelt. Die Vorstellung, nach England zu fliehen und seinem Vater unter die Augen zu treten hatte einen ganz neuen Reiz. Was immer Ælfric tat, es konnte nicht schlimmer werden als der Tag, den Cædmon hinter sich hatte. Aber das Tor der Burg war verschlossen und bewacht. Vielleicht könnte ich auf die Brustwehr steigen, über die Palisaden klettern und hinunterspringen, überlegte er. Aber vermutlich würde ich mir den Hals dabei brechen. Oder das gesunde Bein, wie wär’s, Cædmon? Nein, lieber nicht.
Ratlos wandte er sich zur Treppe, um ins Obergeschoß hinaufzusteigen, aber kaum hatte er die ersten beiden Stufen erklommen, sagte eine leise Stimme aus dem Schatten hinter ihm: »Als ob ich’s geahnt hätte. Und wo willst du hin, Söhnchen?«
Cædmon stieß hörbar die Luft aus. Er wandte sich langsam um, antwortete aber nicht.
Jehan de Bellême wirkte unheimlich im diffusen Fackelschein, das unruhige Licht warf zuckende Schatten auf sein narbiges Gesicht und verwandelte es in eine Fratze. »Sicher bist du unterwegs zu deinem Freund und Landsmann Wulfnoth, nicht wahr? Um Trost in seinem Bett zu suchen, das würde mich weiß Gott nicht wundern.«
Cædmon wurde ganz elend vor Wut. Sehnsüchtig dachte er an die Schleuder an seinem Gürtel. Für einen Augenblick erfreute er sich an der Vorstellung, wie ein kantiger Stein Jehan am Kopf traf. Er sah ihn seine großen Hände vors Gesicht schlagen und in die Knie gehen. Aber der Normanne stand zu nahe vor ihm, um ihn wirkungsvoll mit der Schleuder angreifen zu können. Abgesehen davon hatte Cædmon nicht einen einzigen Stein bei sich.
»Kriege ich vielleicht in absehbarer Zeit eine Antwort?« zischte Jehan. »Ich wollte zu Wulfnoth, ja. Um die Laute zu spielen.«
»Ach ja, ich hatte vergessen, daß du eine Schwäche für damenhaften Zeitvertreib hast.« Jehan trat einen Schritt näher. »Du wirst vorläufigkeine Laute mehr spielen, mein Junge. So lange nicht, bis du genug Kraft hast, ein Schwert vernünftig mit einer Hand zu führen, und zwar mit der rechten und der linken, verstehst du, weil man seinen Schwertarm in einer Schlacht schon mal verlieren kann, und dann ist es gut, wenn man noch einen hat.«
»Warum … warum könnt Ihr mich nicht zufriedenlassen?« fragte Cædmon verständnislos. »Ich werde nie in einer Schlacht kämpfen, das wißt Ihr so gut wie ich.«
Jehan winkte ab. »Jetzt kommt das wieder. Der bedauernswerte Cædmon mit dem lahmen Bein.« Er unterbrach sich kurz. Dann schüttelte er mißbilligend den Kopf, und der Hohn war aus seiner Stimme verschwunden, als er fragte: »Wie ist es passiert, hm?«
Nein, dachte Cædmon. Nicht auch das noch. Gott, mach, daß er mich nicht zwingt. Er lehnte sich mit einer Schulter an die Wand der Treppe und senkte den Kopf. Wenn er nur hätte laufen können, wäre er geflohen, wäre gerannt, hätte sich irgendwo versteckt und die Folgen auf den nächsten Tag verschoben.
»Du willst nicht darüber reden?«
»Nein.«
»Nun, ich will es aber hören. Nicht um dich zu quälen, wie du vermutlich annimmst, sondern um einschätzen zu können, wie stark du wirklich beeinträchtigt bist und was nur wehleidiges Getue ist. Also wirst du es mir sagen.« Die Drohung war unüberhörbar.
Ja, das werde ich vermutlich, dachte Cædmon erschöpft. Früher oder später. Also warum nicht jetzt gleich. Er biß die Zähne zusammen, wandte den Kopf ab und beschränkte sich auf zwei Sätze. Die Jagd, das Drachenschiff, der Pfeil.
»Wo genau hat dich der Pfeil getroffen?«
»Über dem Knie.« Er wies vage in die Richtung.
»Laß mich die Narbe
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