Das zweite Königreich
sehen.«
Cædmon betrachtete ihn ungläubig. »Hier mitten auf der Treppe soll ich die Hosen runterlassen? Habt Ihr keine Angst, ins Gerede zu kommen?« Er konnte kaum glauben, was er gesagt hatte. Aber er hatte im Laufe dieses Tages so viele zotige Beschimpfungen gehört, daß der Ton wohl irgendwie auf ihn abgefärbt hatte. Jehan fiel wider Erwarten nicht über ihn her. Er grunzte, beinah belustigt, hätte man meinen können, packte Cædmon am Arm, zog ihn zurück in den Flur und durch eine Tür in eine kleine, jetzt verlassene Schreibstube. Durchs Fenster fielnoch ein Rest Tageslicht, aber er nahm trotzdem eine der Fackeln von der Wand im Korridor mit hinein und schloß polternd die Tür.
»Jetzt laß sehen.«
Den Blick starr auf das kleine Fenster gerichtet, löste Cædmon den Knoten am Gürtel seiner Beinlinge, ließ sie bis auf die Waden hinabrutschen und hob sein knielanges Übergewand weit genug an, daß die längliche, eingedellte Narbe am Ansatz des Oberschenkels sichtbar wurde.
Jehan beugte sich darüber, die eine Hand auf sein eigenes Knie gestützt, mit der anderen führte er die Fackel so nah heran, daß Cædmon fürchtete, in Flammen aufzugehen. Der Normanne betrachtete den Schaden lange und eingehend. Als er sich schließlich wieder aufrichtete, war seine Miene verschlossen. Das Gesicht gab absolut nichts preis.
»Hat er tief dringesteckt?« erkundigte er sich.
Cædmon genoß immer noch die Aussicht über den Fluß und die bestellten Felder am jenseitigen Ufer. Er nickte knapp. »Auf dem Knochen.«
»Wer hat ihn rausgeholt?«
»Meine Mutter. Sie ist …«
»Ich weiß, ich weiß. Der Vater deiner Mutter war der beste Feldscherer, den wir je hatten.«
Cædmons Kopf fuhr herum. »Ihr kanntet ihn?«
»Hm. Und deine Mutter auch. Hübsches Kind. Was nur in sie gefahren ist, einen Engländer zu heiraten … Hat es stark geblutet?«
»Ja.«
»Wieviel Zeit ist vergangen, bis deine Mutter den Pfeil entfernt hat?« »Ich weiß nicht. Zwei Stunden vielleicht.«
Jehan hob den Kopf und sah ihm für einen Moment in die Augen. »Ich könnte mir vorstellen, die Zeit ist dir mächtig lang geworden.«
Cædmon antwortete nicht. Er hatte keinerlei Interesse am Mitgefühl dieses Ungeheuers.
»Ich sehe, die Wunde ist sauber verheilt. Sie war nicht brandig«, schloß Jehan.
»Nein.«
»Und jetzt ist das Bein taub?«
Cædmon nickte.
»Wann hat das angefangen?«
»Gleich nachdem der Schmerz nachließ. Nach zwei oder drei Tagen.«»Und seither hat sich nichts geändert?«
»Doch. Anfangs brauchte ich einen Stock zum Laufen. Jetzt geht es ohne.«
Jehan winkte ab. »Das liegt nur daran, daß du dich an das taube Gefühl gewöhnt hast. Du hast praktisch wieder laufen gelernt unter den geänderten Umständen. Aber die Taubheit hat nicht nachgelassen?«
»Nein.«
»Und hast du noch Schmerzen?«
»Manchmal. Wenn es kalt ist oder ich das Bein viel bewegt habe.« »Wo genau?«
»Im ganzen Bein.«
»Heute auch?«
»Heute auch.«
Jehan nickte. »Na schön. Du kannst verschwinden. Leg dich schlafen. Ich habe dir bei den anderen ein Lager herrichten lassen, von heute an schläfst du dort. Ein Junge in deinem Alter sollte seine Zeit mit Gleichaltrigen verbringen.«
Cædmon brachte seine Kleider in Ordnung. »Wozu? Ich meine, Harold Godwinson wird, so Gott will, von diesem Feldzug zurückkehren und mich wieder mit nach Hause nehmen. Was soll das Ganze also?«
Jehan runzelte gefährlich die Stirn. »Tu, was ich dir sage. Geh schlafen und sammle deine Kräfte. Du wirst sie brauchen, glaub mir.«
Cædmon wandte sich ab. An der Tür blieb er noch einmal stehen. »Fürchtet Ihr nie, eines Nachts im Schlaf erstochen zu werden?«
Jehan gab sein leises, heiseres Lachen von sich. »Nein. Ich züchte keine Feiglinge, weißt du. Und jetzt scher dich zum Teufel.«
Rouen, Mai 1064
»Es kann nicht mehr lange dauern«, sagte Etienne, holte aus und warf einen flachen Stein ins Wasser. Er setzte dreimal auf. »Conan de Bretagne ist mit fliegenden Fahnen aus Dol geflohen, hat der Bote meinem Vater berichtet. Und jetzt wird der Herzog ihm das Schwert an die Kehle setzen und ihm seine Bedingungen diktieren.«
Etiennes Vaters war Guillaume fitz Osbern, ein entfernter Cousin des Herzogs und sein Steward oder »Seneschall«, wie man hier sagte, derin Rouen zurückgeblieben war, um Reich und Burg in der Abwesenheit des Landesherrn zu verwalten. Er war einer der engsten Vertrauten des Herzogs und genoß hohes Ansehen am Hof.
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