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Das zweite Königreich

Das zweite Königreich

Titel: Das zweite Königreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Gablé
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jetzt spiel endlich, Cædmon.«
    Cædmon folgte seiner Aufforderung willig. Er spielte ein lustiges Trinklied, das er die Soldaten gestern abend im Hof hatte singen hören.
    Wulfnoth summte die Melodie mit und lachte leise, als er geendet hatte. »Kein sehr passender Gesang für einen unschuldigen Knaben wie dich. Es wird Zeit, daß die Soldaten abrücken, damit hier wieder die strenge Sitte einzieht, auf die William so großen Wert legt.«
    Cædmon strich mit dem Finger über die höchste Saite und zupfte leise daran. »Tut er das?«
    »O ja. William ist ein großer Verfechter von Mäßigung und Tugend. Er ist sehr fromm, weißt du. Weitaus frömmer als sein Bruder, der Bischof von Bayeux.«
    »Frömmer als ein Bischof?« wiederholte Cædmon ungläubig.
    Wulfnoth nickte. »Ich denke, seine eigene Geschichte hat William tugendhaft gemacht. Der Fluch seiner Geburt ist die unmittelbare Folge der Lasterhaftigkeit seines Vaters. William hat keine Laster. Er säuft nicht, frißt nicht, er hat niemals Huren. Vielleicht denkt er, wenn er gegen die Sünden des Fleisches ins Feld zieht, wird es in Zukunft weniger bedauernswerte Kreaturen wie ihn geben. Bastarde.« Er hob leicht die Schultern. »Wer weiß. Vielleicht hat er auch völlig andere Gründe, ich habe ehrlich keine Ahnung. Tatsache ist jedenfalls, Bischof Odo von Bayeux, Williams Halbbruder, frißt gern, säuft gern und kennt die Hurenhäuser seiner Diözese besser als die Klöster, darauf möchte ich wetten.«
    »Hat er keine Frau?« wollte Cædmon wissen.
    Wulfnoth schüttelte den Kopf. »In der Normandie dürfen die Bischöfe nicht heiraten. Nicht einmal die kleinen Dorfpfarrer, obwohl viele von ihnen es trotzdem tun.«
    »Sie dürfen nicht heiraten, aber sie dürfen sich Huren halten?« fragte Cædmon verständnislos.
    »Natürlich nicht. Aber wer kann das schon beweisen? Schließlich nehmen sie weder päpstliche Legaten noch den sittenstrengen William mit, wenn sie zu ihren Freundinnen ins Bett steigen.«
    Cædmon schüttelte den Kopf und seufzte tief. »Gott, wie seltsam dieses Land ist. Ich kann nicht glauben, daß Harold mich einfach hier zurückläßt …« Er unterbrach sich und sah schuldbewußt zu seinem neuen Freund auf, ärgerlich über sich selbst. »Verzeih mir, Wulfnoth. Ich habe nicht daran gedacht, wie lange du es hier schon aushalten mußtest.«
    Wulfnoth lächelte schwach. »Schon gut. Ich habe mich daran gewöhnt, weißt du. Und so oft ich mich auch nach England sehne, denkeich doch manchmal, es wäre mir heute viel fremder als dieser Ort hier. Und jetzt spiel weiter, Cædmon. Spiel mir englische Lieder. Vielleicht ist eines dabei, das ich noch nicht kenne.«
     
    Vom Fenster aus verfolgten sie am nächsten Morgen den Auszug von Williams Truppen.
    »So viele Krieger«, staunte Cædmon, zutiefst beeindruckt. Er konnte ihre Zahl nicht schätzen. Aber es waren sicher doppelt so viele wie die Einwohner von Helmsby, das an die dreihundert Seelen zählte.
    »Ja«, stimmte Wulfnoth zu. »Der aufsässige Conan kann einem beinah leid tun. Er hat sich auf der Burg von Dol verschanzt, heißt es, um William zu erwarten.«
    »Und? Was wird der Herzog tun? Wie führt man Krieg gegen jemanden, der sich in einer Burg verschanzt hat?«
    »Oh, es gibt mehrere Möglichkeiten. Man versucht, seine Palisaden mit Belagerungsleitern zu erklimmen, um in die Burg zu gelangen, oder erstürmt das Tor mit einem Rammbock oder schießt feurige Bälle über die Palisaden in der Hoffnung, daß die Gebäude drinnen in Flammen aufgehen. Wenn das alles nichts nützt, zieht man einen Belagerungsring um die Burg und schneidet sie vom Nachschub ab. Und wenn die Verteidiger drinnen hungrig genug sind, kommen sie schon heraus.« »Aber das kann ewig dauern, oder?«
    Wulfnoth schob die Unterlippe vor und hob gleichmütig die Hände. »William hat ja Zeit. Und eine Belagerung ist vielleicht die einzige Sache der Welt, für die er so etwas wie Geduld aufbringen kann.«
    Sie hatten sich gerade wieder mit der Laute auf die Schemel unter dem Fenster gesetzt, als die Tür schwungvoll geöffnet wurde. Ein breitschultriger, älterer Mann trat mit einem großen Schritt über die Schwelle. Er hatte ein ausgeprägtes, glattrasiertes Kinn, über das eine gezackte Narbe verlief. Eine weitere teilte seine linke Wange senkrecht in zwei Hälften. Im übrigen war schwer zu erkennen, was in diesem Gesicht Narben und was Furchen waren. Sein Schädel war so rund und kahl wie die Kiesel im

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