Das zweite Königreich
einem Fuß auf den anderen.
»Herrgott noch mal, Wulfnoth. Wo bleibst du?«
»Hier bin ich schon«, raunte die vertraute Stimme in der noch vertrauterenSprache hinter ihm. »Was kann ich dafür, wenn Guillaume fitz Osbern nach der Messe plötzlich auf die Idee verfällt, mich in ein Gespräch zu verwickeln? Ich kann ihn schwerlich mit einer Ausrede abspeisen und stehenlassen, oder?«
Cædmon nickte ungeduldig und reichte ihm einen grauen, zerlumpten Mantel. »Hier. Zieh ihn über und setz die Kapuze auf. Mach dich klein, halt dich gekrümmt, paß auf, daß niemand deine Haare sieht. Da, beeil dich, die Bettler kommen zum Tor.«
Jeden Sonntag fanden sich arme Leute aus der Stadt und der Umgebung auf der Burg ein und bettelten nach der Messe um Almosen. Männer und Frauen, die durch Alter, Krankheit oder ein sonstiges Unglück in Not geraten waren, oft auch Kinder. Niemand wurde abgewiesen. Herzog William nahm seine Christenpflichten bekanntlich sehr ernst, auch was den Schutz der Schwachen und Bedürftigen betraf.
Das armselige Häuflein bewegte sich langsam zum Tor. Cædmon entging nicht, wie viele von ihnen hinkten. Ich hätte bessere Chancen, mich unbemerkt darunter zu mischen als Wulfnoth, dachte er grimmig. Aber auch Wulfnoth wurde so gut wie unsichtbar in der jammervollen Schar. Cædmon verfolgte seinen Weg durchs Tor und über die Zugbrücke. Wulfnoth hielt sich gekrümmt und zog so glaubhaft das linke Bein nach, daß der Junge sich verdrießlich fragte, ob er ihn vielleicht heimlich beobachtet und studiert hatte.
Als die Bettler zwischen den ersten Häusern der Stadt verschwunden waren, folgte Cædmon zur Brücke.
»Wo soll’s denn hingehen?« fragte eine der Wachen.
Cædmon wandte sich zu ihm um und ging rückwärts weiter. »Ein Apotheker in der Rue Boulanger hat eine neue Salbe gegen lahme Glieder, hat mir einer erzählt«, erklärte er. »Aus Sizilien.« Das war immer ein gutes Stichwort, schien hier beinah gleichbedeutend mit »neuartig« und »wundersam«.
Aber der Wachsoldat war skeptisch. »Du verschwendest dein Geld, Junge«, rief er ihm nach.
Cædmon winkte ab. »Und du versäufst deines, Gilbert.«
Er traf Wulfnoth auf einem kleinen Platz im Tuchhändlerviertel. Cædmon war noch nicht sehr vertraut mit der Stadt, und Wulfnoth kannte sie überhaupt nicht, aber auf dem Platz gab es eine steinerne St.-Martinus-Kirche, die die Tuchhändler gestiftet hatten, und weilsteinerne Kirchen eine solche Seltenheit waren, war sie nicht zu verfehlen.
Wulfnoth hatte an dem öffentlichen Brunnen gleich vor der Kirche haltgemacht. Er saß auf dem gemauerten Brunnenrand, die Hände lose auf den Knien, und sah staunend an der grauen Steinfassade hinauf. »Mein Gott … So etwas habe ich noch nie gesehen …«, murmelte er verwundert.
Cædmon lächelte zufrieden. »Was möchtest du tun? Die Stadt erkunden? Die Kathedrale besuchen? Oder vielleicht einen Ort eher irdischer Freuden? Etienne hat mir versichert, hier gibt es alles.«
Wulfnoth atmete tief durch. »Ja. All das will ich tun. Aber ich glaube, am allerliebsten möchte ich in den Wald. Es ist Frühling. Fast schon Sommer. Ich habe seit meiner Jugend keinen Wald mehr gesehen.« Cædmon nickte. Er brachte keinen Ton heraus. Gott, was für ein Leben, dachte er niedergeschlagen. Wie hältst du das nur aus, Wulfnoth? Ausgerechnet du, dessen Seele so frei wie ein Vogel ist? Was haben sie dir nur angetan, dein Vater, Earl Harold, der König und Herzog William?
Er verbarg seine Beklommenheit hinter einem verwegenen Grinsen. »Komm.« Er winkte seinen Freund eine abschüssige Gasse hinab. »Ich weiß den Weg.«
Sie verbrachten einen wundervollen Tag zwischen Bäumen und Sträuchern in leuchtendem Frühlingsgrün. Wenigstens drei Meilen drangen sie in den dichten Wald vor, und als Cædmon schließlich nicht mehr weiterkonnte, machten sie auf einer Lichtung halt. Wulfnoth war wie trunken vor Glückseligkeit. Er wälzte sich im jungen Gras, sog den Duft von Erde und Blumen tief ein und lachte selig, wann immer er einen Vogel hörte. Einmal weinte er auch. Cædmon wandte ihm den Rücken zu und tat, als bemerke er es nicht, beging statt dessen ein schweres Vergehen und holte mit der Schleuder eine fette Taube aus einem der Bäume. Sie brieten die Taube über einem kleinen Feuer, aßen sie mit ein paar frühen Wildkräutern, die Wulfnoth am Rande der Lichtung entdeckt hatte, leckten sich den Bratensaft von den Fingern, und dann holten sie die Laute aus ihrem
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