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Das zweite Königreich

Das zweite Königreich

Titel: Das zweite Königreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Gablé
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all seine Schüler hockten beklommen in ihrem Quartier um den schweren Eichentisch herum. Sie sahen auf, als Cædmon eintrat, und niemand sagte ein Wort. Etienne saß mit dem Rücken zum Tisch, hatte den Kopf in den Nacken gelegtund drückte ein feuchtes Tuch auf sein linkes Auge. Als er die Hand mit dem Lappen sinken ließ, erkannte Cædmon, daß das Auge fast zugeschwollen war.
    Etienne rang sich ein Lächeln ab. »Du hast hier einen ziemlichen Aufruhr ausgelöst, weißt du. Mein Vater war alles andere als erfreut und wollte wissen, ob ich irgend etwas mit diesem ›verräterischen Akt‹, wie er es nannte, zu tun habe.«
    Cædmon trat kopfschüttelnd näher. »Oh, Etienne. Es tut mir leid. Ich habe dir absichtlich nichts gesagt, um dich nicht in Zwiespalt zu bringen.«
    »Ich weiß. Genau das habe ich ihm erklärt, und er hat mir wohl auch geglaubt. Darum bin ich mit einem blauen Auge davongekommen.« Ein verwegenes Grinsen stahl sich auf sein Gesicht, aber es geriet sofort wieder ins Wanken, als krachend die Tür aufflog.
    Jehan de Bellême füllte die Öffnung fast gänzlich aus. Er stand breitbeinig auf der Schwelle, die Peitsche lag lose in seiner rechten Pranke, und er tippte damit leicht gegen sein Bein.
    Cædmon starrte unverwandt darauf. Er konnte die Augen einfach nicht abwenden. Er schluckte trocken, machte einen hinkenden Schritt Richtung Tür und betete um Mut.
    Aber Jehan schüttelte den Kopf. »Zu dir komme ich später. Erst will ich den Judas.«
     
    Sie wußten nicht, wohin er Lucien gebracht hatte, aber es mußte irgendwo in der Nähe sein, denn sie hörten die Schreie.
    »Gott, sei doch still«, murmelte Roland in das bleierne Schweigen. »Vorher wird er bestimmt nicht aufhören.«
    Das Essen stand unberührt auf dem Tisch und wurde kalt. Keiner verspürte Appetit. Dieser Tag und seine Folgen lagen ihnen allen schwer im Magen. Cædmon war speiübel vor Angst. Was er hörte, entsetzte ihn, und er wußte, daß genau das Jehans Absicht gewesen war. Deswegen hatte er sich Lucien als ersten geholt.
    »Was ist denn eigentlich passiert?« fragte er und fuhr sich mit einer klammen Hand über die Stirn.
    »Wie es scheint, hat Lucien dich hinter dem Vorratshaus verschwinden sehen und sich gedacht, daß du irgendwas im Schilde führst«, sagte Roland. »Also hat er dich beobachtet, und als Wulfnoth mit den Bettlern über die Brücke verschwand, hat er die Torwache alarmiert. Siehaben ihm nicht geglaubt, und das ist ja nicht weiter verwunderlich. Ich meine, Wulfnoth hat noch nie versucht, sich davonzumachen, also wieso plötzlich heute? Als sich dann herausstellte, daß er wirklich verschwunden war, standen die Wachen schön dumm da. Etiennes Vater hat ihnen unmißverständlich klargemacht, was er von ihrer Nachlässigkeit hält. Und wie du dir denken kannst, sind die Wachen jetzt auch nicht besonders gut auf dich zu sprechen.«
    Cædmon verzog das Gesicht. »Großartig …« Aber das war im Moment wirklich seine geringste Sorge. Ein besonders markerschütternder Schrei ließ ihn zusammenfahren.
    »Gott, er wird ihn umbringen«, murmelte Philip.
    Und tatsächlich wurde es auf einmal unheimlich still. Niemand sprach mehr. Niemand schien sich mehr rühren zu können. Und als auf dem Flur draußen der vertraute, schwere Schritt erklang, war Cædmon sicher, er müsse sich übergeben.
    Mit dem gewohnten Übermaß an Kraft stieß Jehan die Tür auf. »Nun zu dir, Cædmon of Helmsby.«
    Der rechte Fuß erschien Cædmon mit einemmal ebenso taub wie der linke. Es war, als berührten sie die strohbedeckten Steinfliesen gar nicht, als er zur Tür hinkte. Kaum in Reichweite, packte Jehan ihn rüde am Arm, schleuderte ihn nach draußen und zog die Tür zu. Dann zerrte er den Jungen den Gang entlang, die Treppe hinunter und hinaus ins Freie. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne tauchten den Burghof in weiches, kupferfarbenes Licht. Noch wenigstens eine Stunde würde bis Einbruch der Dunkelheit vergehen. Lichter und fernes Stimmengewirr drangen aus den Fenstern der Halle, das Haupttor war noch nicht geschlossen.
    »Der Seneschall hat mich angewiesen, dich für dein ungehöriges, eigenmächtiges Betragen angemessen zu bestrafen«, erklärte Jehan.
    »Und muß das unbedingt hier vor den Augen der Welt sein?«
    »Halt den Mund und hör mir zu, Söhnchen. Ich sage dir, was du jetzt tun wirst: Geh in die Wachkammer am Tor. Dort findest du zwei Beutel mit Sand. Die hängst du dir über die Schultern. Dann kommst du

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