Das zweite Königreich
wieder in den Hof, steigst die erste Treppe an den Palisaden hinauf, gehst die Brustwehr entlang bis zur nächsten Treppe, steigst wieder herunter. Dann weiter in dieselbe Richtung bis zur Treppe an der südöstlichen Ecke. Da wieder hinauf. Und immer so weiter. Verstehst du, worauf ich hinauswill?«
Cædmon sah ihn fassungslos an. »Ein Gepäckmarsch über die Brustwehr?« fragte er ungläubig. »Das ist alles?«
»Das ist alles«, bestätigte Jehan mit einem hinterhältigen Grinsen. »Ein Gepäckmarsch über die Brustwehr unter Ausnutzung jeder Treppe, an der du vorbeikommst.«
»Wie lange?« fragte Cædmon argwöhnisch.
Jehans Grinsen wurde noch ein wenig breiter. »Bis Sonnenaufgang.« Cædmon konnte ein Schnauben nicht unterdrücken. »Das schaffe ich niemals. Ich bin heute schon sieben oder acht Meilen gelaufen.«
»Weißt du, es ist letzten Endes eine reine Willensfrage, was man schafft und was nicht. Du weißt, was die Alternative ist. Geh, frag Lucien, wie es ihm gefallen hat.«
»Ich habe gehört, wie es ihm gefallen hat.«
»Tja. Der Junge kann sich nicht beherrschen, aber er wird es schon noch lernen. Also, wie steht es, Cædmon? Was wählst du?«
»Die Brustwehr.«
Jehan nickte zufrieden. »Hab ich’s doch geahnt. Oh, und beinah hätt’ ich es vergessen: Die Nachtwache wird dir eine Fackel geben, die du bei dir trägst, so daß sie dein Fortkommen mitverfolgen können. Ich werde mich jetzt zur Ruhe begeben, aber sollte ich morgen früh hören, daß du gar zu langsam warst oder vor Sonnenaufgang schlappgemacht hast … na ja, du kannst dir vorstellen, wie es dann aussieht.«
Cædmon nickte und betrachtete seinen Lehrer verständnislos. »Warum?«
»Wenn du es nicht verstehst, kann ich es dir nicht erklären, Cædmon. Und nun wünsche ich dir viel Erfolg auf deiner kleinen Wanderung. Gute Nacht.«
Bis Mitternacht war es relativ leicht. Cædmon war überhaupt nicht bewußt, in welchem Maße seine Kräfte und seine Ausdauer zugenommen hatten, seit er das zweifelhafte Privileg genoß, zu Jehan de Bellêmes handverlesenen Zöglingen zu zählen. Bei seiner unfreiwilligen Landung im Ponthieu hatte er sich während seines heftigen, aber doch recht kurzen Kampfes mit den Fluten vollkommen verausgabt. Heute marschierte er drei Stunden ohne besondere Mühe, obwohl die Riemen der Sandbeutel schmerzhaft in seine Schultern schnitten und die Beutel selbst bei jedem Schritt gegen seine Hüftknochen schlugen. Fünf Treppen führten auf die Brustwehr hinauf, jede hatte etwa zwanzig Stufen.Er beschäftigte seine Gedanken ziemlich lange damit auszurechnen, daß es alles in allem also hundert Stufen pro Runde waren. Die Palisaden, die die Burg umgaben, bildeten nahezu ein Quadrat, und jede Seite, hatte Cædmon bis Mitternacht herausgefunden, war etwa zehn Dutzend Schritte lang.
Das erste Ziehen in den Oberschenkeln bemerkte er beim Erklimmen einer der Treppen. Es verteilte sich gleichmäßig, das lahme Bein zog weder stärker noch schwächer als das gesunde. Er nahm die Fackel in die linke Hand und legte die rechte auf das rohe Holzgeländer, um sich den Aufstieg ein wenig zu erleichtern. Die Nacht hatte sich merklich abgekühlt, aber das war ihm nur recht. Die schwache Brise war wohltuend auf seinem heißen Gesicht und trocknete die ersten Schweißtropfen, die sich auf seiner Stirn bildeten. Er kam wieder an eine Treppe. Abwärts. Das ging leicht. Abwärts war fast noch besser als geradeaus. Als er unten ankam, spürte er das kühle, federnde Gras durch die dünnen Sohlen, ein angenehmes Gefühl. Er wußte, daß jetzt der Burgturm zwischen ihm und den Wachen lag, hielt kurz an, nahm für einen Augenblick das Gepäck ab und massierte seine steinharten Schultern. Dann lud er sich die Beutel wieder auf und nahm die nächste Treppe in Angriff. Auf den letzten Stufen ächzte er. Das Ziehen in den Oberschenkeln hatte sich besorgniserregend verstärkt.
Eine Stunde nach Mitternacht knickte das lahme Bein zum erstenmal weg. Es passierte auf der Treppe, ohne jede Vorwarnung. Cædmon ließ die Fackel instinktiv fallen und griff haltsuchend mit beiden Händen nach dem Geländer. Fluchend zog er sich weiter nach oben, hinkte die schmale Brustwehr entlang, wobei er sich mit der Hand an den Palisaden abstützte, dann wieder eine Treppe hinunter. Abwärts erschien ihm inzwischen fast ebenso schlimm wie aufwärts. Seine Knie wollten sich nicht mehr beugen. Und das taube Bein wurde zusehends unzuverlässiger. Er nutzte die
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