Das zweite Königreich
Cædmon fand ihn hochnäsig und aufbrausend, und er hatte festgestellt, daß Etienne, fitz Osberns drittältester Sohn, seinem Vater möglichst aus dem Weg ging. Jedenfalls versuchte er nie, aus der Verbindung Kapital zu schlagen. Cædmon warf ebenfalls einen Stein. Er brachte es auf fünf Mal. »Aber Roland hat gesagt, der König von Frankreich unterstützt Conan.«
»Wieso bist du immer besser als ich? Zeig mir noch mal, wie du es machst … Ja, der König unterstützt Conan. Aber was heißt das schon? Das Reich, das der König regiert, ist nicht einmal halb so groß wie die Normandie.«
Cædmon starrte ihn mit offenem Munde an. »Aber ist nicht der König der oberste Herrscher über ganz Frankreich? Ich meine, der Earl of Wessex besitzt auch das meiste Land in England, aber er könnte sich niemals gegen den König auflehnen.«
Etienne kniete sich ins Ufergras und suchte nach neuen Steinen. »Nein, das ist hier anders. Der Herzog würde nie offen gegen den König ins Feld ziehen, weil er ihm einen Lehnseid geleistet hat, den er nicht brechen will. Aber davon abgesehen hat der König keinerlei Macht über ihn oder die anderen Herzöge. Jeder herrscht über sein Herzogtum wie über ein eigenes Königreich.«
»Aber wenn niemand das Sagen über alle anderen hat, führen sie nicht immerzu Krieg gegeneinander?«
»Doch. Oft.«
Cædmon schüttelte den Kopf. »Und da sagst du, wir seien Barbaren.« Etienne lachte, und plötzlich war seinem blassen, schmalen Gesicht anzusehen, daß er erst fünfzehn Jahre alt war. Meistens ließen seine ernste Miene und die versonnenen, dunklen Augen ihn älter wirken. Er war groß und schlaksig wie Cædmon, aber er hatte eine beherrschte, selbstsichere Art, sich zu bewegen. Sein Gesicht war ebenmäßig, mit einer hohen Stirn und einer edlen, geraden Nase, und Cædmon hatte beobachtet, daß die Mägde in der Halle sich immer allerhand einfallen ließen, um seine Aufmerksamkeit zu erregen, wenn Etienne sich gelegentlich dort aufhielt. Obwohl er noch relativ jung war, gehörte er zu Jehans besten Schülern, und Cædmon hätte nicht zu sagen vermocht, wie er die letzten Wochen ohne Etiennes Heiterkeit und seine natürliche Freundlichkeit überstanden hätte.
»Hier, paß auf«, sagte Cædmon und nahm seitlich hinter seinem Freund Aufstellung. »Du mußt ihn mehr aus dem Handgelenk werfen, damit er sich schneller dreht, dann fliegt er praktisch übers Wasser.« Er vollführte mehrmals eine langsame Pantomime der Wurfbewegung, um Etienne deutlich zu machen, was er meinte, ehe er ihm den Stein aus der Hand stahl und warf. Acht Mal.
»Das glaub’ ich einfach nicht …«, murmelte Etienne.
»Na ja«, brummte Cædmon. »Zwölf ist wirklich gut.«
Etienne verschränkte die Arme und betrachtete ihn kopfschüttelnd. »Oh, Cædmon. Was für ein Aufschneider du bist. Das kannst du mir nicht weismachen. Es ist unmöglich.«
Cædmon strich sich die langen Haare hinters Ohr und suchte mit den Augen den Boden nach einem geeigneten Stein ab. »Wollen wir wetten?«
»Einverstanden. Wenn du es schaffst, übernehme ich heute abend deinen Stalldienst, und du kannst dich zu deinem schwermütigen Landsmann schleichen und auf deiner geliebten Laute üben.«
»Wie großmütig du bist, Etienne …«
»Das ist nicht weiter schwierig, wenn man sicher sein kann, daß man seine Großmut nicht unter Beweis stellen muß. Du hast drei Versuche.« Cædmon hatte den richtigen Stein gefunden. Mit geschlossenen Augen befühlte er ihn zwischen Daumen und Fingern der Rechten und schüttelte den Kopf. »Ein Versuch reicht. Und du übernimmst meinen Stalldienst die ganze Woche. Wenn ich es nicht schaffe, nehme ich dir deinen eine Woche lang ab, wenn du das nächste Mal an der Reihe bist.«
Etienne atmete mit einem Lächeln tief durch. »Oh, seliger Müßiggang. Welch wunderbare Zeiten kommen auf mich zu.«
»Wenn du dich da nur nicht irrst …«
»Halt keine Reden. Laß sehen.«
Cædmon trat hinkend ans Ufer und betrachtete das Wasser mit leicht zusammengekniffenen Augen. Er lauschte dem Plätschern, dem Rhythmus, mit dem die kleinen Wellen ans grasbewachsene Ufer schwappten. Er konzentrierte sich nur auf diese Laute und wog den Stein in der Hand, der inzwischen ganz warm geworden war. Dann ging er leicht in die Knie, holte aus und ließ den flachen Kiesel aus dem Handgelenk vorschnellen. Er flog wenigstens zehn Ellen weit aufs Wasser hinaus, ehe er zum erstenmal aufsetzte. Dann wieder und wieder und wieder.Bei
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