Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das zweite Königreich

Das zweite Königreich

Titel: Das zweite Königreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Gablé
Vom Netzwerk:
lächelte ein wenig.
    »So ist gut, Cædmon. Zeig die Zähne. Und hier kommt wieder eine Treppe …«
    Cædmon schwankte inzwischen wie ein Schiff auf rauher See. Er klammerte sich mit beiden Händen an das rohe Holzgeländer, spürte die Splitter in der Hand nicht mehr. Michel folgte dicht hinter ihm, bereit, den Jungen jeden Augenblick vor einem tödlichen Sturz zu bewahren. »Siebzehn … sechzehn … fünfzehn … dreizehn … zwölf …«
    »Du hast eine vergessen, Junge, aber das macht nichts.«
    »Was?«
    »Die Sonne geht auf.«
    Cædmon hatte den Fuß der Treppe fast erreicht. Seine Hände glitten vom Geländer, und er ließ sich fallen, spürte eine kantige Holzstufe auf der Schulter, und dann rollte er durch weiches Gras. Mit geschlossenen Augen saugte er an den Halmen, die in seinen Mund geraten waren, rührte sich nicht mehr, spürte mit einer Art entrückter Verzückung das Pochen in den Fußsohlen und schlief ein.
    »… selten einen Jungen von so grimmiger Entschlossenheit gesehen«, hörte er Michels Stimme sagen.
    Dann das vertraute, verhaßte, heisere Lachen. »Ja. Er ist ein gottverfluchter Dickschädel. Also willst du sagen, es hat funktioniert, ja?« »Ich sage, er ist neun Stunden ohne Pause gelaufen, und als er wirklich am Ende war, hat er aufgehört zu hinken.«
    Es war einen Moment still. Dann Jehans Stimme: »Ich danke dir, Michel. Du hast mir einen großen Dienst erwiesen.«
    Die Stimmen entfernten sich, und Cædmon schlief wieder. Das Gehörte stahl sich in seine Träume und vermischte sich mit den wirren Bildern, die er dort sah, von Wulfnoth und Luciens Zwillingsschwester, die gemeinsam mit einem Sperber im Wald von Rouen Tauben jagten, Etienne, der mit sandgefüllten Leinensäcken beladen am Ufer des Ouse stand und Steine übers Wasser hüpfen ließ, und jedesmal, wenn der Stein aufsetzte, stieg aus dem Wasser ein Schrei auf, und der Fluß hatte Luciens Stimme.
     
    Es war schon fast Mittag, als Cædmon zum erstenmal richtig wach wurde. Er schlug die Augen auf und starrte auf die inzwischen vertraute, graue Mauer neben seinem Strohbett, aber er rührte sich nicht. Für den Augenblick wollte er nicht mehr spüren als die wohlige Wärme unter seiner Decke, die bleierne Schwere seiner Glieder. Doch er war nicht mehr müde genug, um wieder einzuschlafen. Bald wurde der Anblick der Mauer ihm eintönig, er schlug die Decke zurück und setzte sich stöhnend auf. »Gott … Ich bin ein alter Mann.«
    Ohne jede Eile stand er auf, reckte sich versuchsweise und hinkte zum Tisch hinüber. Bei jedem Schritt protestierte jeder Muskel seines Körpers, aber das machte weiter nichts. Er ließ die Schultern kreisen, setzte sich auf seinen Platz und fiel über die Hafergrütze her, die sie ihm übriggelassen hatten.
    Als er wenig später auf den Gang hinaustrat, stieß er mit Aliesa dePonthieu zusammen. Oder genauer gesagt, sie rannte ihn über den Haufen. Cædmon taumelte zurück gegen die Tür, stolperte über die eigenen Füße und landete unsanft am Boden.
    »Oh … Ich bitte vielmals um Verzeihung«, rief sie erschrocken. Im nächsten Moment lag ihre schmale Hand auf seinem Arm. »Seid Ihr verletzt?«
    Cædmon kam hastig auf die Füße. »Nein …« Er verfluchte seine Neigung zum Erröten. » Ich muß mich entschuldigen.«
    Das besorgte Stirnrunzeln verschwand, und sie lächelte. Die Ähnlichkeit mit ihrem Bruder war verblüffend. Lucien und Aliesa glichen einander, wie es bei zwei Menschen unterschiedlichen Geschlechts nur möglich war. Sie hatten die gleichen rabenschwarzen Haare, große, graugrüne Augen und eine Spur zu breite Münder mit vollen Lippen. Aliesas Nase war höchstens einen Hauch zierlicher. Ihr Kinn hatte das gleiche Grübchen, doch vom Hals an endete alle Ähnlichkeit. Die Zwillinge waren ein Jahr jünger als er, wußte Cædmon, aber während Luciens Körper noch genauso knabenhaft und ungelenk war wie seiner, hatte Aliesa schon die Proportionen und feingeschwungenen Formen einer erwachsenen Frau. Das konnte er mühelos erkennen, denn die Kleider normannischer Frauen lagen eng an Schultern, Brust und Hüften, statt in weiten Falten zu fallen, wie es bei Engländerinnen üblich war. Aliesa trug ein schlichtes Kleid aus gelblich weißem Leinen, auf den Hüften mit einem geflochtenen Lederband gegürtet. Unter den kurzen, bestickten Ärmeln schauten die langen des Unterkleides hervor, das einen Ton dunkler gefärbt war. Cædmon mußte sich zwingen, nicht auf die Wölbung zu starren,

Weitere Kostenlose Bücher