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Das zweite Königreich

Das zweite Königreich

Titel: Das zweite Königreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Gablé
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Gunst der Dunkelheit und überschlug die nächsten beiden Treppen. Erst kurz vor dem Tor hangelte er sich wieder auf die Brustwehr hinauf.
    Ein Wachsoldat hatte dort oben Stellung bezogen und erwartete ihn. »Ich dachte schon, du hättest ein Nickerchen eingelegt. Ich seh’ deine Fackel nicht mehr«, sagte er.
    Cædmon hinkte an ihm vorbei. »Ich hab sie verloren. Sie ist hingefallen und erloschen.« Er klang kurzatmig.
    »Wenn du das nächste Mal vorbeikommst, gebe ich dir eine neue«, versprach der Soldat.
    Ich weiß nicht, ob ich noch mal vorbeikomme, dachte Cædmon düster. Er war müde. Seine Augen brannten, und die Muskeln in Schultern und Beinen schmerzten, als habe er sauren Essig statt Blut in den Adern. Dieses Mal mogelte er bei allen Treppen. Er schleppte sich die Brustwehr entlang, sah manchmal aus dem Augenwinkel das schwarze, samtige Band des Flusses unter sich schimmern oder den Sternenhimmel über sich, aber er hatte keinen Blick mehr für ihre Schönheit.
    »Hier«, sagte der Soldat, als Cædmon zu ihm zurückkam. »Trink einen Schluck.« Er streckte ihm einen Becher entgegen.
    Cædmon griff danach und trank gierig. Es war kühles Wasser, und es belebte ihn so sehr, daß er sich für ein paar Augenblicke einredete, er könne vielleicht doch bis Sonnenaufgang durchhalten. Aber die erfrischende Wirkung ließ nur zu bald wieder nach. Auf der Treppe an der Westwand strauchelte er beim Aufstieg und schlitterte vier oder fünf Stufen abwärts. Er griff verzweifelt um sich auf der Suche nach einem Halt, bekam einen Längsbalken zu fassen und trieb sich ein paar große Splitter in die Hand. Es war nichts, brannte nur ein wenig. Aber Cædmon weinte. Er war völlig am Ende.
     
    »Komm schon, Junge. Es ist nicht mehr lange. Siehst du den Schimmer da drüben? Noch eine Runde, höchstens zwei, dann geht die Sonne auf.«
    »Nicht für mich«, keuchte Cædmon und wankte an ihm vorbei.
    Der Mann folgte ihm mit dem Wasserbecher. »Hier, trink.«
    Cædmon nahm das Wasser, aber er hielt nicht an. Wenn er jetzt stehenblieb, würde er sich nie wieder in Bewegung setzen, das wußte er genau. Seine unnütze Last hatte er schon vor langer Zeit abgelegt. Er hatte mehr als genug damit zu tun, sein eigenes Gewicht zu tragen. Er taumelte wie im Fieber, und seit einiger Zeit hatte er Mühe, klar zu denken. Auf den Treppen betete er das Pater Noster , und bei jedem Wort nahm er eine Stufe in Angriff. Es war der einzige Weg, der ihm einfiel, um überhaupt noch einen Fuß vor den anderen zu setzen. Er konzentrierte sich auf die Worte, die er murmelte, statt auf das Reißen in seinen Beinen, und sie gehorchten ihm, als sei es eine äußere Kraft, die sie lenkte.
    Als er die nächste Runde absolviert hatte, konnte auch Cædmon einenschwachen rosa Schimmer am östlichen Himmel ausmachen, aber als er hinübersah, überkam ihn ein heimtückischer Schwindel, und er fiel auf Hände und Knie nieder. Ein Brausen wie das Rauschen der See war in seinen Ohren. Er kroch weiter.
    »Steh wieder auf«, herrschte der Soldat ihn an. »Na los, komm auf die Füße. Ich habe mir hier nicht die Nacht mit dir um die Ohren geschlagen, damit du jetzt so kurz vor dem Ziel schlappmachst. Steh auf!«
    »Kann nicht mehr … die Treppen …«
    Der Mann zerrte ihn hoch, legte ihm von hinten die Hände auf die Schultern und schob ihn vorwärts. »Es sind einhundertundzwölf Stufen, Cædmon. Kannst du so weit zählen?«
    »Ja.«
    »Dann zähl jetzt rückwärts. Denn das hier ist die letzte Runde, ehrlich, Junge, das ist nicht gelogen. Komm schon. Ich gehe ein Stück mit. Und hier haben wir die erste Treppe. Zähle.«
    Es wirkte so ähnlich wie das Beten, die Zahlen waren wie ein Seil, das ihn weiterzog. »Hundertacht … hundertsieben … hundertsechs …« Er wankte gefährlich auf das viel zu niedrige Geländer zu, und der Wachsoldat beschloß, den Jungen auf dem Rest des Weges zu begleiten, damit er nicht so kurz vor dem Ziel von der Brustwehr stürzte. »Verflucht sei Jehan de Bellême, dieser Teufel«, murmelte der Mann.
    Cædmon spürte ein irres Kichern in seiner Brust aufsteigen und drängte es erschrocken zurück. »Wie heißt du?«
    »Michel«, antwortete der Soldat. »Wie der Erzengel, dem das Kloster auf der Felseninsel geweiht ist.«
    Cædmon kannte kein Kloster auf einer Felseninsel. Aber er dachte an Ely, das auf einer Insel inmitten eines tückischen Moores lag, und an Guthric, der so gern dorthin wollte, an Dunstan, Hyld und Eadwig, und er

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