Das zweite Königreich
Wälder, und nirgendwo ist man wirklich weit vom Meer entfernt. Es regnet genauso viel wie hier, und ebenso plötzlich kommt die Sonne hervor. Aber bei uns hat nur Gott Häuser aus Stein, nicht die Menschen. Man legt nicht so großen Wert auf Etikette wie hier, ich glaube, die Menschen fürchten sich weniger voreinander. Wenn ein Mann einem anderen ein Unrecht zufügt, wird er in der Regel nicht verstümmelt, sondern muß dem Geschädigten oder dessen Hinterbliebenen ein Wergeld bezahlen. Und die Thanes und Earls schicken ihre Söhne nicht fort, um sie von einem Ungeheuer in wütende Krieger verwandeln zu lassen.«
»Ihr meint also, Euer Land sei glücklicher als dieses hier?«
»Nein. Wir haben die Dänen, um uns das Leben bitter zu machen. Sie haben England ausgeblutet, wir haben ihnen seit Generationen immer größere Summen Geld bezahlt, damit sie uns zufriedenließen. Darum leben bei uns mehr Menschen im Elend als hier.«
»Und habt Ihr Heimweh?«
Er nickte seufzend. »Schrecklich.«
Sie lachte ihr sanftes, warmes Lachen. »Armer Cædmon.« Es klang wunderschön, wie sie seinen Namen aussprach.
Er mußte selbst grinsen. »Ja, der werde ich sein, wenn ich nicht bald zum Unterricht gehe.« Er stellte den Korb neben ihr ins Gras.
»Dann will ich Euch nicht aufhalten. Au!« Erschrocken ließ sie die Blüte los, die sie gehalten hatte, und steckte den Finger in den Mund. Cædmon trat einen Schritt näher. »Laßt sehen.«
Er nahm ihre Linke in seine beiden schwieligen Hände, die neben ihrer groß wie Bärentatzen wirkten. Zögernd ließ sie zu, daß er ihre Finger geradebog. Er hatte geglaubt, sie habe sich an einer Rose gestochen, aber tatsächlich hatte sie sich mit der scharfen Klinge ihres Messers in den Finger geschnitten. Es blutete heftig.
»Augenblick. Das haben wir gleich.« Behutsam tupfte er mit seinem Ärmel das Blut ab, rupfte ein wenig Moos aus der Wiese und drückte es vorsichtig auf die Schnittwunde. »Das stillt die Blutung. Ihr werdet sehen, gleich hört es auf.«
Sie sah verblüfft auf ihren grünen Verband. »Woher wißt Ihr das?« »Meine Mutter hat’s mir beigebracht. Aber Ihr könnt es getrost glauben, sie ist Normannin, wißt Ihr.« Er verneigte sich mit einem Lächeln. »Und jetzt muß ich wirklich gehen.«
Sie schlug die Augen nieder. »Danke für Eure Hilfe.«
Verzückt betrachtete er die langen, dichten Wimpern, riß sich mühsam von ihrem Anblick los und wandte sich ab. Auf dem Weg zum Sandplatz legte er unbewußt die Hände zusammen. Fast war es, als könne er ihre weichen, schmalen Finger immer noch spüren.
Jehan hatte zu seiner mehrstündigen Verspätung keinen Kommentar abgegeben, aber er nahm Cædmon gleich wieder hart an die Kandare, hetzte ihn über den Sandplatz und ließ ihn seine neuerworbene Geschicklichkeit im Schwertkampf gegen die schwierigsten Gegner erproben. Cædmon erbrachte heute nur höchst mäßige Leistungen, denn ihm taten immer noch alle Knochen weh, und langsam stellte sich in den Beinen ein mörderischer Muskelkater ein. Trotzdem ließ Jehan ihn auch heute immer laufen, während er die anderen reiten ließ, wie so oft in den vergangenen Wochen. Cædmon erduldete die schikanöse Routine mit zusammengebissenen Zähnen. So erbärmlich er sich auch fühlte, es gab jemanden, dem es heute noch viel schlechter ging als ihm. Am Ende des langen Nachmittags teilte Jehan Cædmon und Lucienzusammen ein, die Ausrüstung in die Waffenkammer zurückzubringen, was immer den Verlierern des Tages vorbehalten war.
Die Arme voller Wurfspieße folgte Cædmon Lucien zu der bewachten Holzbaracke neben dem Pferdestall, wo die Ausrüstungsgegenstände verwahrt wurden. Schweigend räumten sie alles zurück an den richtigen Platz. Auch bei dieser Aufgabe war man gut beraten, besondere Sorgfalt walten zu lassen.
»Lucien, kann ich mit dir reden?«
Der junge Normanne wandte sich langsam zu ihm um. »Ich wüßte wirklich nicht, was du und ich zu bereden hätten.«
Cædmon plagte ein schlechtes Gewissen. Er hatte überhaupt nichts gegen diesen Jungen, im Gegenteil, als er ihn zum erstenmal mit seiner Schwester im Hof der Burg ihres Vaters beobachtet hatte, hatte er gedacht, was für ein vornehmer, junger Edelmann er doch war. Er hatte sich gewünscht, er könne genauso sein, zur Falkenjagd reiten und mit größter Selbstsicherheit einer jungen Dame aus dem Sattel helfen.
Er atmete tief durch. »Es tut mir leid. Alles, was passiert ist.« Er schüttelte ratlos den Kopf.
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