Das zweite Leben
war eingefallen und von den Anstrengungen, Entbehrungen und Enttäuschungen gezeichnet. Dünne Lippen, Ringe unter den Augen. Mit Schaudern wandte Ross sich ab und warf sich aufs ungemachte Bett.
Der Gedanke an eine Zukunft, in der es wieder Leben auf der Erde geben würde, hatte ihn sein grausames Los ertragen lassen. Wie oft hatte er sie in seinen Träumen vor sich gesehen, die Menschen, die er irgendwo unter der Erde finden und darauf vorbereiten wollte, eines Tages wieder »Oben« zu leben und sich zu vermehren. Jetzt, da der Tod nach ihm griff, gab es keine Hoffnung mehr. Die Berichte der Suchroboter taten ein übriges. Ross wollte vergessen. Er begann, sich in eine Traumwelt zu flüchten. Die letzten Tage seines Lebens wollte er in Gedanken bei Alice verbringen, irgendwo an einem weißen Strand, unter Palmen und im hohen Gras zwischen den Dünen. Er vernachlässigte die Roboter, las die Bücher, die er am liebsten verbrannt hätte, als die Schwester sie ihm brachte, und hörte sich Konzerte an. In Pellews Arbeitszimmer fand er Tonbänder, auf denen Theaterstücke und Tierstimmen zu hören waren. Nachmittags ging er rastlos durch die Korridore und dachte über das nach, was er am Morgen gelesen und gehört hatte. Der Abend gehörte der Schwester. Ross sprach mit ihr über alles mögliche, erzählte von der Erde, die er als Kind gekannt hatte, und staunte darüber, daß sie vieles von dem, was er an philosophischen Gedanken entwickelte, zu verstehen schien und oft darauf einging.
Wenn die Lichter gelöscht wurden und er schlafen sollte, lag er zitternd im Bett und fragte sich, ob er stark genug sein würde, den Tod wie ein Mann zu ertragen, oder schreien würde wie ein Kind, wenn der Hunger nicht mehr auszuhalten war.
Dann kam der Tag, an dem die letzten Büchsen auf seinem Tisch standen. Ross wollte noch einmal die Oberfläche sehen. Es hatte während der Nacht geregnet, und die Sicht reichte bis weit aufs Meer hinaus und zu den näheren Bergen. Ross suchte sich einen Felsblock auf dem Hügel unterhalb der Kuppel und beobachtete lange die schwarzen Sturmwellen. Sein ganzes Leben zog wie ein Film vor seinem geistigen Auge vorbei. Er sah sich als Kind, seine Eltern, die Freunde und Lehrer, Dr. Pellew und Alice, immer wieder Alice. War es gestern gewesen, daß sie sich zum letztenmal geküßt hatten, bevor Ross in den Tiefschlaf mußte? Der tiefe Blick ihrer Augen, in dem alles gelegen hatte, was sie auszudrücken hatte. Für Alice war seine Einfrierung gleichbedeutend mit dem Tod gewesen. Dabei hatte er erst durch sie wirklich zu leben begonnen.
5B riß ihn aus seinen Erinnerungen. Die Schwester äußerte ihre Besorgnis über sein Zittern und bestand darauf, seine Temperatur zu messen. Ross mußte plötzlich lachen, was 5B nur noch mehr beunruhigte.
»Schon gut«, sagte Ross und gab mit heiserer Stimme Befehle, um den Roboter schnell auf andere Gedanken zu bringen. Er begab sich wieder in die Kuppel. Die inzwischen eingelaufenen negativen Berichte der Robottrupps nahm er kaum noch zur Kenntnis. Er erklärte, daß alle Maschinen ihre derzeitige Arbeit unterbrechen sollten, um ein neues Projekt in Angriff zu nehmen. Da er zum Zeitpunkt ihrer Rückkehr im Tiefschlaf liegen würde, gab er 5B alle Instruktionen, die dazu erforderlich waren. Die Schwester würde sie weitergeben. Als letztes wies er sie an, unverzüglich mit den Vorbereitungen für die Einfrierung zu beginnen.
»Wann haben Sie Ihren Entschluß gefaßt, Sir?« wollte 5B wissen.
»Eben«, antwortete Ross knapp. Vier Stunden später lag er in seinem ausgepolsterten Tiefschlafbehälter, der nun nicht mehr nur in der äußeren Form einem Sarg glich. Zum letzenmal sagte er:
»Falls das Projekt erfolglos bleibt, will ich nicht wiedererweckt werden. Das ist ein Befehl. Ihr würdet mich nur aus dem Tiefschlaf holen, um mich schmerzvoll verhungern zu lassen.«
»Ich habe verstanden, Sir«, sagte die Schwester. »Haben Sie weitere Instruktionen?«
»Ja«, begann Ross. Er wollte ihr etwas sagen, verlor aber den Faden. Der Frost durchlief seinen Körper, und Ross befand sich schon im Kältedelirium. Worte sprudelten über seine Lippen, während sich der Behälter über ihm schloß. Dann lag er still. Die Kammer wurde zu einem riesigen Eisgefängnis – eine Sicherheitsvorkehrung für den Fall, daß der Behälter im Lauf der Zeit beschädigt wurde.
»Es tut mir sehr leid, Sir«, sagte Schwester 5B.
Ross spürte die furchtbare Kälte wieder. Sein erster
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