Das zweite Vaterland
Pausen entwickelte sich sofort eine lebhafte Unterhaltung. Annah vergnügte sich damit, einige der hübschen Blumen zu pflücken, deren Wohlgeruch den ganzen Weg erfüllte. Mehrere hundert Vögel flatterten zwischen den dichtbelaubten und früchteschweren Aesten umher Durch das Gras und Kraut schlüpfte mancherlei Wild, wie Hafen, Kaninchen, Auerhähne, Haselhühner und Schnepfen. Weder Ernst noch Jack hatten ihre Jagdflinten mitnehmen dürfen, und es schien fast, als ob die Vierfüßler und das Geflügel das wüßten. Heute sollte ja auch spazieren gegangen. nicht gejagt werden.
»Ich erwarte bestimmt, hatte der ältere Zermatt, dem Annah Wolston eifrig beistimmte, vor dem Weggange gesagt, daß heute diese harmlosen Geschöpfe unbelästigt bleiben.«
Ernst, dem die Jagdlust nicht so tief im Blute lag, war sofort zu einer Zusage bereit, Jack aber ließ sich erst etwas bitten. Auszugehen ohne Gewehr, das – seinen Worten nach – einen Theil seines Selbst bildete, erschien ihm gerade so, als ob ihm ein Arm oder ein Bein amputirt worden wäre.
In diesen Pausen entwickelte sich sofort eine lebhafte Unterhaltung. (S. 104.)
»Ich kann ja das Gewehr immerhin mitnehmen, ohne davon gleich Gebrauch zu machen, hatte er gesagt. Selbst wenn ein ganzes Volk Rebhühner zwanzig Schritt von mir vorüberzöge, verpflichte ich mich, nicht zu schießen…
– Ein solches Versprechen würden Sie nicht zu halten vermögen, Jack, hatte das junge Mädchen geantwortet. Bei Ernst hätte das wohl keine Gefahr, doch bei Ihnen…
– Wenn uns nun aber ein Raubthier in den Weg käme, ein Panther, Bär, Tiger oder Löwe, die giebt’s ja alle auf der Insel…
– Doch nicht im Gelobten Lande, Jack, hatte
Frau
Zermatt entgegnet. Erhebe nur keinen weiteren Einspruch; Du hast ja für die Jagd noch dreihundertvierundsechzig Tage zur Verfügung.
– Haben wir denn nicht wenigstens ein Schaltjahr?
– Nein, das nicht, erwiderte Ernst.
– Man hat aber auch gar kein Glück!« rief der junge Jäger.
Es war ein Uhr geworden, als die Familien, nachdem sie das Mangobaumgehölz durchschritten hatten, unten vor Falkenhorst anlangten.
Zunächst überzeugte sich der ältere Zermatt, daß die Hürde, die den Geflügelhof umgab, in unversehrtem Zustande war. Weder die Affen noch die Eber hatten sich diesmal der ihnen angeborenen Zerstörungslust hingegeben. Jack hätte freilich auch keine Möglichkeit gehabt, derartige Plünderer zu züchtigen.
Die Spaziergänger ruhten nun ein wenig auf der halbrunden, die Wurzeln des riesigen Mangobaumes überdeckenden Terrasse aus, die aus thonig-fetter Erde hergestellt und mittels einer Mischung von Harz und Theer undurchlässig gemacht worden war. Jeder nahm eine kleine Erfrischung zu sich, die die Methfässer unter der Terrasse lieferten. Dann erstiegen alle die im Innern des Stammes angelegte Wendeltreppe, womit sie die, vierzig Fuß über der Erde gelegene Plattform erreichten.
Wie glücklich fühlte sich die Familie Zermatt hier unter dem breiten Geäste des Baumes! War diese Stelle doch sozusagen ihr erstes Nest gewesen, das bei ihnen so viele Erinnerungen wachrief. Seine beiden, mit Gittergeländer versehenen Balkons, sein doppelter Fußboden, seine mit dicht anschließender Rindenlage abgedeckten Zimmer, hatten das »Nest« zu einer reizenden und kühlen Sommerwohnung gemacht, die jetzt aber nur zu vorübergehendem Aufenthalte diente. Geräumigere Einrichtungen sollten am Prospect-Hill geschaffen werden. Jedenfalls wollte der ältere Zermatt den »Horst des Falken« aber so lange in stand halten, wie der riesige Baum ihm auf seinen Aesten eine genügende Stütze böte und bis er einst »an Jahren reich« vor Alter selbst zusammenbräche.
An diesem Nachmittage trat im Laufe des Gesprächs auf dem Balkon Frau Wolston noch mit einer Anregung hervor, die gewiß Beachtung verdiente. Bei der ungeheuchelten Frömmigkeit und den tiefen religiösen Gefühlen, die ihr eigen waren, konnte niemand über ihre Worte erstaunen.
»Schon oft, liebe Freunde, so sprach sie, habe ich bewundert – und bewundre noch – was Sie alles auf diesem Theil unserer Insel geleistet und geschaffen haben: Felsenheim, Falkenhorst, Prospect-Hill, die Meiereien, Anpflanzungen und Felder; alles zeugt von ebensoviel Intelligenz wie von Arbeitsfreudigkeit. Frau Zermatt hab’ ich aber schon wiederholt gefragt, warum Ihnen Eines mangle…
– Eine Kapelle? fiel Betsie sofort ein. Sie haben recht, meine liebe Merry. Wir brauchen
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