Das zweite Vaterland
Schakalbaches und vor den Uferblöcken bei Felsenheim.
In der ersten Juniwoche verdoppelten sich die stürmischen Böen, theils floß der Regen wie aus engmaschigem Netze hernieder, theils schlug er als Platzregen klatschend auf die Erde auf. Ohne völlig wasserdichte Bedeckung konnte man sich keinen Schritt ins Freie wagen.
In der Umgebung wurden der Gemüsegarten, die Anpflanzungen und die Felder von diesen unaufhörlichen Niederschlägen überschwemmt, und von den Gesteinswänden bei Felsenheim gurgelten tausend Wasserfäden mit dem Geräusche von Stromschnellen herab.
Obwohl jetzt niemand hinausging, wenn es nicht die dringendste Nothwendigkeit erforderte, vergingen die Stunden doch ohne die geringste Langeweile. Zwischen den beiden Familien herrschte die vollständigste Einmüthigkeit, eine Uebereinstimmung der Anschauungen, die niemals Auseinandersetzungen aufkommen ließ. Natürlich brauchen wir kaum die Freundschaft zwischen dem älteren Zermatt und Wolston besonders hervorzuheben, ein Verhältniß, das in den sechs Monaten des gemeinschaftlichen Lebens nur immer tiefer Wurzel geschlagen hatte. Nicht anders stand es mit beiden Frauen, deren Eigenschaften und Anlagen sich recht glücklich ergänzten. Der immer heitere Spaßvogel Jack endlich, der stets wie auf dem Ansprung und begierig nach Abenteuern war, murrte höchstens zuweilen darüber, daß er seiner Jagdlust nicht fröhnen konnte.
Was Ernst und Annah anging, konnte es deren Eltern nicht entgehen, daß diese ein wärmeres Gefühl als das der Freundschaft zu einander hinzog. Das jetzt siebzehnjährige, aber etwas ernste und überlegte junge Mädchen mußte dem ebenfalls ernsten und überlegten jungen Manne ja nothwendigerweise gefallen, und dieser konnte, bei seinem einnehmenden Wesen, jener unmöglich mißfallen.
Die Zermatts und die Wolstons faßten mit Vergnügen die Aussicht auf eine zukünftige Verbindung ins Auge, die die Bande zwischen den beiden Familien nur noch enger knüpfen würde.
»Weil dieser Kiesel eine Pepite ist…« (S. 175.)
Uebrigens ließ man den Dingen ungehindert ihren Lauf, in der Erwartung, daß sich, wenn Fritz und Jenny mit der »Licorne« als Mann und Frau zurückkehrten, alles schon allein ordnen werde.
Kam es doch einmal zu einer harmlosen Neckerei, so ging diese gewiß von dem schalkhaften Jack aus, der übrigens bei seinem festen Vorsatze, Hagestolz zu bleiben, auf Ernst keineswegs eifersüchtig war.
Während der Mahlzeiten und in den Abendstunden bildeten ausnahmslos die Abwesenden den Gegenstand der Unterhaltung. Man vergaß dabei weder den Oberst Montrose oder James und Suzan Wolston, noch Doll und Franz oder sonst einen von denen, die in der Neuen Schweiz ihr zweites Vaterland finden sollten.
Eines Abends stellte da der ältere Zermatt folgende Berechnung auf:
»Wir haben heute den fünfzehnten Juni, liebe Freunde. Da die »Licorne« am zwanzigsten October des vergangenen Jahres abgesegelt ist, ergiebt das bis jetzt reichlich acht Monate. Sie muß also nun auf dem Punkte sein, die europäischen Meere wieder zu verlassen und in den Indischen Ocean einzusegeln.
– Was meinst Du darüber, Ernst? fragte Frau Zermatt.
– Ich denke, erklärte dieser, daß die Corvette, unter Berücksichtigung ihres Aufenthaltes am Cap, nach drei Monaten hat in einem Hafen Englands eintreffen können. Dieselbe Zeit würde sie zur Rückreise brauchen, und da ausgemacht war, daß sie nach einem Jahre wieder hier sein sollte, wird sie jedenfalls auch ein halbes Jahr in Europa geblieben sein. Ich schließe also daraus, daß sie sich zur Zeit noch dort befindet.
– Doch ohne Zweifel fertig, in See zu gehen, bemerkte Annah.
– Das ist wohl anzunehmen, liebe Annah, antwortete Ernst.
– Uebrigens wäre es auch möglich, daß sie ihren Aufenthalt in England abgekürzt hätte, ließ sich Frau Wolston vernehmen.
– Möglich wohl, erwiderte ihr Gatte, obgleich sechs Monate für das, was sie zu erledigen hatte, keine zu lange Zeit sind. Unsere Lords der Admiralität übereilen sich nicht…
– Nun, warf der ältere Zermatt ein, wenn sich’s aber um eine neue Erwerbung handelt…
– Da geht es wohl schneller, rief Jack. Wissen Sie übrigens, daß es ein recht schönes Geschenk ist, das wir Ihrem Vaterlande da machen, Herr Wolston?
– Das erkenne ich gern an, lieber Jack.
– Und doch. fuhr der junge Mann fort, welch schöne Gelegenheit wär’ es für unsere alte Helvetia gewesen, hier den ersten Schritt zu einer
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